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Die zehnte Kammer

Die zehnte Kammer

Titel: Die zehnte Kammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glenn Cooper
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absieht. Auch Bäume oder andere Pflanzen gehörten nicht zu ihren Motiven, zumindest haben wir das angenommen, bevor du diese Höhle hier entdeckt hast. Sie haben also nicht einfach drauflosgemalt, sondern müssen gewichtige Gründe für die Auswahl ihrer Motive gehabt haben. Und jetzt finden wir auf einmal Ruac …«
    Er verstummte, nahm die Brille ab und rieb sich die wässrigen Augen.
    »Was ist mit Ruac?«, fragte Luc.
    »Die Höhle hier rüttelt gewaltig an meinen bisherigen Theorien.«
    »Inwiefern?«
    »Weil ich mich im Lauf der Jahre vom Archäologen in einen Statistiker verwandelt habe, Luc. Ich stecke bis zum Hals in Computermodellen und Algorithmen und kann dir genau sagen, in welcher Höhle man nach links blickende Pferde findet und in welcher nicht. Aber seit ich heute die Ruac-Malereien gesehen habe, fühlte ich mich wieder wie ein Archäologe, was eigentlich sehr gut ist. Beunruhigend daran ist lediglich, dass ich mir plötzlich wieder bewusst bin, wie wenig ich im Grunde genommen doch weiß.«
    Luc stimmte ihm zu und fuhr fort: »Es gibt eine Menge bahnbrechend neues Material hier. Du bist nicht der Einzige, der lieb gewordene Vorstellungen korrigieren muss. Wir alle werden das tun müssen. Denk allein an die Bilder in der Pflanzenkammer, die werfen eine Menge Theorien über den Haufen. Und was ist, wenn die Höhle wirklich in der Aurignac-Zeit ausgemalt wurde? Ich weiß, dass du das nicht glaubst, aber vielleicht finden wir ja trotzdem einen Beweis dafür.«
    »Gewiss, die Pflanzen sind eine vollkommen neue Erkenntnis. Aber es geht um viel mehr als nur darum. Der gesamte Höhlenkomplex hat etwas, das mich tief bewegt. Besonders dieser Vogelmann, der einmal bei den Wisenten und einmal inmitten der Vegetation dargestellt ist. Als ich den ansah, kam mir immer wieder dieser verdammte Begriff ›Schamane‹ in den Sinn, obwohl der für mich im Zusammenhang mit dem Jungpaläolithikum eher ein Unwort ist.« Er klopfte Luc aufs Knie. »Wenn du Lewis-Williams erzählst, dass ich das gesagt habe, bringe ich dich um!«
    »Meine Lippen sind versiegelt.«
    Pierre kam von hinten auf sie zu und beugte sich über den Tisch. »Hättest du vielleicht kurz Zeit für mich, Luc?«, fragte er.
    Luc stand auf, und als sich Alon ebenfalls erhob, konnte man deutlich hören, wie seine Knie knackten. Er legte einen Arm auf Lucs Schulter, stellte sich auf die Zehenspitzen und flüsterte ihm ins Ohr: »Würdest du mich heute Nacht vielleicht ein paar Minuten allein in die Höhle lassen? Ich brauche nicht lange, aber ich muss sie ganz kurz einmal ungestört erleben, nur mit einem kleinen Licht, so wie die Menschen damals.«
    »Tut mir leid, Zvi, aber wir müssen uns alle an die Regeln halten.«
    Alon nickte traurig und ging.
    Luc wandte sich an Pierre. »Was ist los?«
    »Da sind zwei Leute aus der Ortschaft, die wollen mit dir reden.«
    »Haben sie Dreschschlegel und Mistgabeln dabei?«
    »Nein, einen Kuchen.«
    Luc hatte die Besucher schon einmal gesehen. Es war das Paar aus dem Café in Ruac.
    »Ich bin Odile Bonnet«, sagte die Frau, »und das ist mein Bruder Jacques.«
    Plötzlich begriff Luc. Odile bemerkte seinen Blick.
    »Ja, der Bürgermeister ist unser Vater«, sagte sie. »Ich glaube, er ist ziemlich unfreundlich mit Ihnen umgesprungen. Das tut uns leid, und deshalb bringen wir Ihnen diesen Kuchen.«
    Luc bedankte sich und lud die beiden auf ein Glas Cognac in seinen Wohnwagen ein.
    Odile erinnerte ihn mit ihrem Lächeln und ihrem sinnlichen Aussehen an eine Filmdiva, die ihre beste Zeit schon hinter sich hatte. Obwohl der Abend ziemlich kühl war, trug sie einen kurzen Rock, der viel von ihren langen Beinen zeigte. Sie war zweifellos eine gutaussehende Frau, aber irgendwie hatte sie etwas Bäuerliches an sich, das nicht Lucs Fall war. Ihr Bruder machte ein ausdrucksloses Gesicht. Er schien nicht gerade der Hellste zu sein und war wohl nur mitgekommen, um seine Schwester nicht allein zu lassen.
    Odile nippte lediglich an ihrem Cognac, während ihr Bruder seinen so rasch trank, als wäre er ein Bier. »Mein Vater hasst alles, was modern ist«, erklärte Odile. »Er mag es lieber ruhig und gemütlich. Touristen und Fremde sind ihm ein Gräuel, insbesondere Deutsche oder Amerikaner. Er ist der Meinung, dass Höhlen, in denen Malereien gefunden werden, den Charakter einer Gegend nachhaltig verändern. Sie bringen nichts als Verkehr, Trubel und Andenkenläden, wenn Sie wissen, was ich meine.«
    »Natürlich«, sagte Luc.

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