Die zehnte Kammer
nicht zu regnen drohte, saßen fast alle auf Klappstühlen und Weinkisten im Freien. Luc sprach ein letztes Mal mit Girot, bevor der Journalist wieder zurück nach Paris fuhr. Als er sich verabschiedete, tauschten sie Visitenkarten aus, und Luc vergewisserte sich noch einmal, dass der Artikel auch wirklich erst nach der Freigabe durch das Ministerium erscheinen würde. »Machen Sie sich deshalb keine Sorgen, Herr Professor«, sagte Girot. »Eine Abmachung ist eine Abmachung. Sie haben mir sehr geholfen, und ich bin Ihnen wirklich dankbar dafür.«
Beim Abendessen saß Luc gegenüber von Zvi Alon. Der Israeli hatte das Hauptgericht, das aus Lammkoteletts mit Rosmarin und Bratkartoffeln bestand, nicht angerührt und stattdessen nur Brot mit Butter und etwas Obst gegessen. Luc deutete auf Alons Teller. »Gibt es Probleme mit dem Essen, Zvi?«, fragte er. »Ist es nicht koscher?«
»Ich ernähre mich nicht koscher«, antwortete Alon. »Ich mag bloß kein französisches Essen.« Angesichts dieser schonungslosen Ehrlichkeit musste Luc lächeln. »Und was hältst du von der Höhle?«, fragte er.
»Nun, ich denke, dass du eine der bemerkenswertesten prähistorischen Stätten überhaupt entdeckt hast. Diese Höhle könnte man ein Leben lang erforschen, und ich wünschte mir, ich hätte noch ein ganzes Wissenschaftlerleben vor mir. Du weißt ja, dass ich nicht zu Sentimentalitäten neige, Luc, aber diese Höhle hat mich berührt. Ganz gleich, wie alt sie wirklich ist, sie flößt mir Ehrfurcht ein. Lascaux hat man die Sixtinische Kapelle des Paläolithikums genannt, aber die Künstler hier in Ruac waren noch viel besser. Die Farben ihrer Gemälde sind strahlender, was für eine hervorragende Pigmenttechnik spricht, und die Tiere sind sogar naturalistischer als in Lascaux oder Altamira oder Font de Gaume oder Chauvet, vom kunstvollen Einsatz der Perspektive ganz zu schweigen. Hier waren die Leonardos und Michelangelos ihrer Zeit am Werk.«
»Das sehe ich genauso, Zvi. Diese Höhle eröffnet uns die Chance, einen neuen Durchbruch bei der Frage zu erreichen, über die du schon so viel geschrieben hast: Warum haben sie das alles gemalt?«
»Du weißt, dass ich darüber meine ganz persönlichen Ansichten habe.«
»Genau deshalb habe ich dich auch ausgewählt.«
»Und du hast die richtige Wahl getroffen«, sagte Alon ohne eine Spur von Verlegenheit. »Wie du weißt, bin ich mit Lewis-Williams und Clottes wegen ihrer schamanistischen Theorien hart ins Gericht gegangen.«
»Beide haben sich bei mir ausgeweint«, erwiderte Luc. »Aber sie respektieren dich trotzdem.«
»Für meinen Geschmack legen sie ihren Schwerpunkt zu sehr auf Beobachtungen des zeitgenössischen Schamanismus in Afrika und Amerika. Die Geschichte von der Höhlenwand als Membran zwischen der realen Welt und der der Geister finde ich ebenso weit hergeholt wie die vom Schamanen als einer Art paläolithischem Timothy Leary, der sich Pigmente auf die Haut schmiert und sich mit Halluzinogenen vollpumpt. Die Menschen von Ruac und Lascaux waren zwar Homo sapiens, so wie wir, aber ihre Gesellschaften befanden sich in einem stetigen Wandlungsprozess und waren nicht statisch wie die heutigen Stammeskulturen. Aus diesem Grund kann ich Extrapolationen auf Basis der modernen Ethnologie nicht akzeptieren. Mag sein, dass es keinen neurologischen Unterschied zwischen unserem Hirn und dem ihren gibt, aber kulturelle Unterschiede muss es geben, und genau die sind wir nicht imstande zu begreifen. Du kennst meinen Standpunkt, Luc. Ich komme aus der alten Schule, ich folge da Laming-Emperaire und Leroi-Gourhan, und daher sage ich, dass wir uns auf das konzentrieren sollen, was die Archäologen gefunden haben. Sehen wir uns die Tiere auf diesen Malereien an, welche Gattungen nebeneinander gezeigt werden, wie ihre Herden strukturiert sind und wie sie in Verbindung mit Menschen dargestellt werden. Aus diesen Informationen kann man eine Mythologie ebenso herauslesen wie die Bedeutung der Tiere für die Stämme und dann alles zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen. Wir reden hier über eine Periode von mindestens fünfundzwanzigtausend Jahren, eine enorme Zeitspanne, in der die Menschen immer wieder auf denselben Grundstock von Tiermotiven zurückgriffen: auf Pferde, Wisente, Rotwild, Stiere und hin und wieder auch auf Raubkatzen und Bären. Keine Rentiere, obwohl sie sich davon ernährten, und auch keine Vögel oder Fische, wenn man von ein paar ganz vereinzelten Ausnahmen einmal
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