Die zehnte Kammer
einfach. Einen Bruder zu verlieren ist furchtbar. Aber einen Bruder zu verlieren, der gleichzeitig fast zweihundert Jahre lang ein Freund gewesen ist, ist unerträglich. Ich habe deine sterblichen Überreste begraben, mein lieber Nivard. Wer wird dereinst die meinen begraben? Ich bin kein Heiliger, o Herr, sondern nur eine mitleiderregende Seele, die die Gelehrsamkeit zu sehr geliebt hat. Ist deshalb meine Liebe zu Dir geringer geworden? Ich glaube nicht, aber nur Du, mein Gott, magst das beurteilen. Für meine Sünden werde ich mit Blut bezahlen, und ich kann sie nicht einmal mehr meinem Abt beichten, weil er tot ist. Auch mich werden sie holen, aber bis es so weit ist, will ich meine Beichte hier niederschreiben. Ich werde das in einer Geheimschrift tun, die Bruder Jean entwickelt hat, ein Gelehrter mit einer edlen Seele, den ich schmerzlich vermisse. Das Geheimnis, das meine Beichte enthält, ist nicht für jedermann bestimmt, und wenn ich diese Welt verlasse, wird es mit mir untergehen. Sollte es jemals noch einmal entdeckt werden, dann nur, weil Du, mein Gott, es für richtig befunden hast, aus Gründen, die allein Du kennst. Ich bin nur ein einfacher Schreiber und Buchbinder, und solltest Du, Herr, mir die Zeit schenken, dieses Buch zu vollenden, so will ich es dem heiligen Bernhard widmen. Sollte es hingegen verbrannt oder zerstört werden, dann sei es so. Wenn es jedoch eines Tages von einem Menschen in dem ihm zugedachten Versteck gefunden und entschlüsselt wird, sei diesem Menschen gesagt: Gott möge deiner armen Seele gnädig sein, denn der Preis, den du für dieses Geheimnis zahlen musst, wird hoch sein.«
Hugo hörte auf zu übersetzen und sah seinen Freund an.
»Geht es noch weiter?«, fragte Luc.
»Ja«, flüsterte Hugo.
»Dann lies weiter, um Gottes willen!«
Zvi Alon trat heftig aufs Gas und ließ den Motor des Autos auf der kurzen Strecke vom Lager zum neuangelegten Parkplatz oberhalb der Höhle in höchsten Umdrehungen aufheulen. Als er den Mietwagen schließlich mit einer Vollbremsung zum Stehen brachte, spritzten die Kieselsteine in alle Richtungen. Wolkenfetzen zogen sich wie dunkle Tentakel über den Nachthimmel und verfinsterten die Sichel des zunehmenden Mondes. Das provisorische Wachhäuschen, das vor Errichtung der Tore hier gestanden hatte, war längst verschwunden und hatte einer vollautomatischen Überwachungskamera Platz gemacht, die ihre Bilder direkt an einen Monitor im Grabungsbüro sandte.
Zvi schloss das Auto ab und zog den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Hals hoch. Ein kühler Luftzug wehte vom Tal herauf, als Zvi seine Taschen nach dem Schlüssel zur Höhle abtastete. Der war groß und schwer und hatte fast etwas Mittelalterliches. Daneben befand sich in der Jackentasche eine kleine Taschenlampe. Zvi hätte zwar lieber eine Öllampe mit offener Flamme gehabt, das wäre noch authentischer gewesen, aber er musste sich mit dem behelfen, was ihm zur Verfügung stand. Raschen Schrittes ging er auf die Leiter zu, die hinunter zur Höhle führte.
Er konnte es kaum erwarten, mit der Taschenlampe in der Hand eine halbe Stunde lang allein durch die Höhle zu streifen und die Eindrücke dort auf sich wirken zu lassen. Am nächsten Tag würde er sich bei Luc für diese Eigenmächtigkeit entschuldigen und ihm sagen, dass ihn ein Anfall von Wahnsinn gepackt habe. Luc würde das zwar offiziell missbilligen, insgeheim aber Verständnis haben, dessen war Zvi sich sicher. Schließlich konnte er nicht anders. Die Höhle rief nach ihm. Er musste mit ihr in Zwiesprache treten. Diese Nacht würde alles für ihn verändern. Sie würde seine Gedanken auf ein völlig neues Gleis bringen und möglicherweise lange gehegte Überzeugungen über den Haufen werfen.
»Diese verdammten Schamanen«, flüsterte er. War es möglich, dass er sich getäuscht hatte?
Er verlangsamte seine Schritte, als er sich der Leiter näherte. Es war ein anstrengender Abstieg, und in seinem Alter war er keine Bergziege mehr.
Auf einmal hörte er rasche Schritte.
Jemand rannte über den Kies des Parkplatzes!
Erschrocken wirbelte er herum, aber er schaffte keine ganze Drehung mehr. Er sah weder den Knüppel, der ihn am Kopf traf, noch spürte er, wie ihn jemand zum Rand der Felswand zerrte, und er hörte auch das aufgeregte Flügelschlagen der beiden Milane nicht, die sich genau in dem Moment in die Luft erhoben, als sein Körper am Boden der Schlucht ins Geäst einer Eiche krachte.
ZWÖLF
Abtei Clairvaux,
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