Die zehnte Kammer
gemeinsamen Nacht hatte sie das auch getan.
Luc war sich nicht sicher, ob es seine Anwesenheit oder Barthomieus Geschichte war, die ihr solchen Stress bereitete.
Nachdem er mit seinem Bericht fertig war und sie ausgiebig über die sich daraus ergebenden Konsequenzen für ihre Arbeit geredet hatten, wünschte er ihr eine gute Nacht und stand auf. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu schließen, glaubte sie immer noch, dass er wegen Carlos sauer war.
Der zweite Tag der Ausgrabung begann ganz normal, entwickelte sich jedoch in kürzester Zeit zu einem wahren Albtraum.
Als Zvi Alon nicht beim Frühstück erschien, machte sich noch niemand größere Sorgen, aber als man dann seinen Wagen auf dem Parkplatz oberhalb der Felswand fand, wurde Jeremy langsam nervös. Er erzählte Luc, wie der Israeli am Abend zuvor den Schlüssel zur Höhle geholt und gesagt hatte, Luc hätte es erlaubt. Das bestritt Luc natürlich vehement.
Nachdem sich das Team versichert hatte, dass das Höhlentor verschlossen und unberührt war, begann es, die Schlucht unterhalb der Felswand abzusuchen, fand dort allerdings nichts. Schließlich wies Luc die Morgenschicht an, mit der Arbeit in der Höhle zu beginnen, während er Kontakt mit den Behörden aufnehmen wollte.
Weil es sich bei den Ausgrabungen um ein wichtiges Projekt handelte, wurde ein Leutnant von der Gendarmerie, ein Mann namens Billeter, persönlich mit der Angelegenheit betraut. Der verständigte sofort Colonel Toucas, seinen Vorgesetzten beim Regionalpräsidium für die Dordogne in Périgeux, und sorgte dafür, dass ein Polizeiboot von Les Eyzies die Vézère flussaufwärts geschickt wurde.
Am späten Vormittag wurde Luc in der Höhle per Funk verständigt, dass Toucas im Lager eingetroffen sei. Der Oberst war ein leicht übergewichtiger Mann mit groben Gesichtszügen und langen, faltigen Ohrläppchen. Sein Schnurrbart war viel zu knapp gestutzt für die breite Fläche zwischen seiner Nase und seiner Oberlippe, was Toucas mit einem Spitzbart am Kinn kompensierte. Der Colonel hatte eine seltsam sanfte und kultivierte Stimme, die so gar nicht zu seinem eher martialischen Äußeren passen wollte. Am Telefon hätte Luc mehr Vertrauen zu dem Mann gehabt.
Sie trafen sich bei Alons verlassenem Mietwagen. Kaum hatten sie sich miteinander bekannt gemacht, kam der junge Leutnant auf sie zu und informierte sie darüber, dass man soeben am Ufer des Flusses eine männliche Leiche gefunden habe.
Luc wusste, dass er an diesem Tag nicht in die Höhle zurückkehren würde. Er musste hinunter zum Fluss und die Leiche identifizieren. Als er den blutigen und zerschundenen Körper von Zvi Alon schließlich sah, schnürte es ihm die Brust ab. Der Sturz über die Felswand hatte Alons Gesicht zertrümmert und Arme und Beine in so seltsamem Winkel verdreht, dass sie Luc an den knorrigen alten Wacholderbaum auf dem Weg zur Höhle erinnerten. Ein abgebrochener Ast hatte sich durch Zvis Unterbauch gespießt und war am Rücken wieder ausgetreten. Obwohl es noch relativ kühl war, schwirrten bereits unzählige Insekten um den Toten herum.
Für den Rest des Tages musste Luc sein Büro Toucas und seinen Männern überlassen, damit die Aussagen des Teams protokolliert werden konnten. Als Letzter kam Jeremy dran, und als er am späten Nachmittag die mobile Toilette aufsuchte, war er so bleich wie der ausgeblutete Leichnam von Zvi Alon. Sein Freund Pierre kümmerte sich um Jeremy. Er nahm ihn in den Arm und brachte ihn zum Küchenzelt, wo er ihm ein Glas Bier spendierte.
Die Stimmung im Lager war gedrückt, als Luc nach dem Abendessen ein paar Worte an die Truppe richtete. Toucas hatte ihm mitgeteilt, dass für ein abschließendes Urteil noch das Ergebnis der Obduktion abgewartet werden müsse. Es sehe aber alles danach aus, dass Alon einfach den Halt verloren habe und in die Schlucht gestürzt sei. Die Leiche lag direkt unterhalb der Leiter an der Felswand, und die Verletzungen wiesen alle auf einen Fall aus großer Höhe hin. Für ein Verbrechen gebe es keinerlei Anhaltspunkte, erklärte Luc seinen finster dreinblickenden Kollegen.
Nachdem er mit einer kleinen Rede Professor Alons Leistungen für die Archäologie gewürdigt und die Anwesenden zu einer Schweigeminute aufgerufen hatte, appellierte er noch einmal an alle, die Höhle nur zu den offiziellen Arbeitszeiten zu betreten. Von nun an werde er allein die Schlüssel zum Tor aufbewahren. Einen werde er an seinem Schlüsselbund ständig bei sich haben, den
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