Die zehnte Kammer
Jeans Zelle hinüber in die angrenzende Krankenstube. Eigentlich hatte Jean vorgehabt, seine Sandalen auszuziehen und sich eine Stunde hinzulegen. Seit er mit den anderen in der Höhle gewesen war, wurde er im Schlaf von Albträumen geplagt. Immer wieder tauchten die Bilder an den Höhlenwänden und das Skelett in der letzten Kammer darin auf. In einem seiner Träume hatten sich die Knochen von selbst wieder zusammengesetzt und in den Vogelmann verwandelt, der mit seinem erigierten Penis im hohen Gras stand. Jean war schweißgebadet erwacht und hatte den Rest der Nacht in die Flamme der kleinen Kerze gestarrt, die auf seinem Tisch zwischen dem Mörser und der Steinschüssel stand.
Seitdem verspürte er einen unwiderstehlichen Drang.
Einen Drang, der sich nicht leicht stillen ließ.
Er trieb ihn zusammen mit Barthomieu, Bernhard und Abélard hinaus in die taufrischen Wiesen und dunklen Wälder rings um die Abtei, wo sie körbeweise Wildgerste, rote Johannisbeeren und Ackerwinden sammelten.
Er trieb ihn dazu, die Beeren in seinem Mörser zu zerdrücken und sie zusammen mit den anderen Pflanzen zu einem zähen Sirup einzukochen.
Und er trieb ihn dazu, mit den drei anderen eines Nachts in seiner Zelle den scharfen, roten Trank einzunehmen.
DREIZEHN
»War das alles?«, rief Luc.
Hugo hatte aufgehört zu übersetzen. Er schloss die Datei und drehte die Handflächen entschuldigend nach oben. »Mehr hat mein Bekannter bisher nicht entziffert.«
Luc stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf, was den Boden des Bürocontainers in Schwingung versetzte. »Gut, sie haben sich einen Trank aus den Pflanzen gebraut? Und dann?«
»Ich werde meinem belgischen Freund mal eine aufmunternde E-Mail schreiben, damit er an unserer Sache weitermacht und nicht wegen irgendeines Star-Trek-Kongresses das Interesse daran verliert.«
»Es gab ein Skelett in der Höhle, Hugo! Und die Schüssel. Wie schade, dass sie diese Funde nicht für uns übrig gelassen haben.«
Hugo zuckte mit den Achseln. »Sie haben getan, was sie glaubten tun zu müssen, und einem steinzeitlichen Höhlenmenschen ein christliches Begräbnis angedeihen lassen!«
»Aber das ist genau so, wie ein ägyptisches Grab zu finden und dann festzustellen, dass die Grabräuber vor einem da waren. Ein In-situ- Skelett aus dieser Zeit hätte für die heutige Wissenschaft einen unglaublichen Wert.«
»Immerhin haben sie die Malereien heilgelassen, vergiss das nicht.«
Luc stand auf und ging zur Tür. »Schreib deinem Freund, er soll sich mit der Entschlüsselung des Manuskripts beeilen. Ich gehe zu Sara und rede mit ihr wegen der Pflanzen.«
»Ich an deiner Stelle würde mit ihr mehr tun als nur reden.«
»Meine Güte, Hugo. Wann wirst du endlich erwachsen?«
In Saras Wohnwagen war es dunkel, aber Luc klopfte trotzdem an.
»Wer ist da?«, klang es gedämpft aus dem Inneren.
»Ich bin’s, Luc. Ich muss mit dir etwas Wichtiges besprechen.«
Nach einer Weile öffnete sich die Tür, und der Spanier Ferrer stand mit nacktem Oberkörper vor Luc. »Sie kommt gleich. Vielleicht auch noch was zu trinken?«
Dann kam Sara und zündete eine Gaslaterne an, in deren Licht sie errötete wie ein Teenager, den man beim Knutschen ertappt hat. Als sie bemerkte, dass ihre Bluse nicht zugeknöpft war, verdrehte sie die Augen.
Ferrer gab ihr einen Kuss auf die Wange, sagte verständnisvoll, die Arbeit habe natürlich Vorrang, und verschwand.
Luc fragte Sara, ob sie lieber draußen mit ihm reden wolle, aber sie bat ihn hinein und stellte die zischende Lampe auf den Tisch vor der Sitzecke. »Scheint recht nett zu sein, dieser Carlos«, brachte Luc schließlich hervor.
»Sehr nett.«
»Kanntest du ihn vor Ruac?«
Sie runzelte die Stirn. »Wenn du mich so ausfragst, hörst du dich an wie mein Vater. Das ist ein bisschen peinlich, findest du nicht?«
»Mir nicht. Wenn es dir peinlich ist, entschuldige ich mich. Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen.«
»Natürlich nicht.« Sie trank einen Schluck aus einer Wasserflasche. »Worüber wolltest du mit mir reden?«
»Über die Pflanzen, die in der Höhle abgebildet sind. Ich glaube, sie wurden für einen bestimmten Zweck benutzt.«
Sara beugte sich nach vorne, was Luc einen ungehinderten Blick auf ihr Dekolleté bescherte.
»Erzähl weiter«, sagte sie. Während Luc schilderte, was in Frater Barthomieus Manuskript stand, wickelte Sara sich eine Haarsträhne so fest um den Finger, dass er ganz weiß wurde. In ihrer letzten
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