Die zehnte Kammer
Sie nicht, in wen, sondern, in was.« Es bereitete Pierre ein diebisches Vergnügen, seinen Doktorvater auf die Folter zu spannen.
»Na schön, in was hast du dich verliebt?«
»In die hübscheste kleine Hornschnitzerei, die Sie je gesehen haben.«
Als er in Kammer 10 eintraf, war auch Luc von dem Fund ganz fasziniert.
Es war ein etwa zwei Zentimeter langer, aus Horn geschnitzter Wisent mit dicken, flachen Füßen, der den breiten Kopf auf dem dicken Hals trotzig nach oben streckte. Die glattpolierte Figur war so unversehrt, dass sogar ihre dünnen, nadelspitzen Hörner vollständig erhalten waren. Luc konnte sein rechtes Auge und die an der Flanke seines Leibs eingeritzten Linien erkennen, die wohl das Fell symbolisieren sollten.
»Alle Achtung!«, rief Luc. »Ein wunderschönes Artefakt, das meine Erwartungen an die Höhle genau bestätigt. Nun können wir sagen, dass es in Ruac nicht nur Malereien, sondern auch figurative Kunstwerke gibt. Ich wünschte nur, Zvi hätte das noch erleben können. Der Wisent sieht so aus, als stamme er aus der Aurignac-Zeit, genau wie unsere Klinge.«
Sara meldete sich zu Wort. »Wenn wir ihn gezeichnet und fotografiert haben, werde ich meine ersten Pollenproben genau darunter entnehmen«, sagte sie.
»Wie lange wird es dauern, bis du sie analysiert hast?«, fragte Luc.
»Ich gehe am Nachmittag gleich ins Labor. Wenn alles gut läuft, habe ich heute Abend vielleicht ein vorläufiges Ergebnis für dich.«
»Abgemacht. Wir sehen uns später im Labor«, erwiderte Luc. Doch dann pfiff Ferrer hinter seiner Maske erstaunt.
Mit seinen scharfen Augen, die auf das Aufspüren von Knochen gedrillt waren, hatte er etwas entdeckt, das allen anderen entgangen war. Ein paar Zentimeter entfernt von der Wisentfigur war in der hellbraunen Erde ein dunkelbrauner Fleck zu erkennen. Ferrer ging in die Hocke und stocherte mit seinem Zahnarzthaken herum. »Du meine Güte«, presste er hervor. »Ich glaube, wir haben gerade darauf gekniet.«
»Worauf?«, fragte Luc.
»Warte, lass es mich erst freilegen.«
Das Ding, das der Spanier entdeckt hatte, war einen halben Zentimeter lang und weniger als einen Viertelzentimeter breit. Es dauerte nicht lange, bis es vollständig freigelegt war.
»Also, was ist das?«, fragte Luc, der nervös wie ein werdender Vater von einem Fuß auf den anderen trat.
»Ich schätze, heute Abend ist wieder Champagner fällig«, antwortete der Spanier fröhlich. »Das ist eine menschliche Fingerspitze.«
»Bist du sicher?«
»Natürlich. Es ist das Fingerglied eines Kleinkindes! Wir haben soeben einen sensationellen Fund gemacht!«
Nachdem Sara ihre Pollenproben genommen hatte, begann der Rest des Teams das Viereck nach weiteren Knochen abzusuchen. Obwohl sie keine mehr fanden, waren sie in Hochstimmung, als sie die Höhle am Ende ihrer Schicht wieder verließen. Menschliche Knochen aus dem Jungpaläolithikum waren so selten wie Hühnerzähne. Der Fund war der Gesprächsstoff im Camp, und Ferrer reichte den kleinen Knochen in seiner Muster-Kunststoffdose herum wie die Reliquie eines Heiligen. Keiner im Team war Fachmann genug, um anhand eines Fingerknochens das Alter des Kindes zu bestimmen, geschweige denn sein Geschlecht. Für solche Untersuchungen mussten sie einen Spezialisten hinzuziehen.
Um neun Uhr ging Luc zum Laborcontainer und sah, dass Sara noch immer an ihren Proben arbeitete. In einer Ecke saß Odile an einem Schreibtisch, den sich sonst Jeremy und Pierre teilten, und erledigte irgendwelchen Verwaltungskram.
Odile hatte sich in ihrem Hilfsjob als ziemlich fähig erwiesen und eine Reihe von Büroarbeiten übertragen bekommen. Weil sie für ihren Vater die Buchhaltung und den Lebensmitteleinkauf erledigte, kannte sie sich damit bestens aus. Ihr Bruder ließ sich nicht so oft wie sie im Lager sehen und half nur hin und wieder einmal dem Koch beim Gemüseschneiden oder ähnlichen Arbeiten.
Als Luc auf seinen Cowboystiefeln in den Container polterte, plauderten Sara und Odile gerade auf Französisch und kicherten wie Schulmädchen.
Odile verstummte sofort und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Sara hingegen erklärte Luc, dass sie die Proben gleich unters Mikroskop legen wollte. Sie hatte während des Abendessens durchgearbeitet, das Material nass gesiebt und mit Fluorwasserstoffsäure von anhaftenden Silikaten befreit.
Luc sah zu, wie sie mit schlanken Fingern etwas Glyzerin auf einen gläsernen Objektträger tropfte und die Probe mit einem Deckglas
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