Die zehnte Kammer
anderen werde er in seinen Schreibtisch sperren.
Luc aß nur wenig an diesem Abend. Ziemlich bald zog er sich in seinen Wohnwagen zurück, wo Hugo ihm mehrere Gläser Bourbon einflößte und ihm auf seinem akkubetriebenen MP3-Player Dixieland vorspielte, bis Luc schließlich vollbekleidet einschlief. Hugo schaltete die Musik ab und lauschte noch dem Ruf einer Eule, bevor auch er in seine Koje ging.
Trotz der Tragödie schritt die Arbeit in Ruac voran. Auch wenn Zvi Alon eine große Lücke im Team hinterließ, die bis zur nächsten Saison nicht geschlossen werden konnte, machten alle weiter wie nach Plan. Der Schwerpunkt des ersten Ausgrabungsabschnitts lag auf zwei Kammern der Höhle – auf Kammer 1, direkt hinter dem Höhleneingang, und Kammer 10, der letzten Kammer mit den Pflanzen und dem Vogelmann an den Wänden.
Weil Kammer 10 ziemlich eng war, gestattete Luc es nur einer handverlesenen Kerngruppe, gleichzeitig dort zu arbeiten. Zu ihr gehörten Sara, Pierre, Craig Morrison, der Gesteinsexperte aus Glasgow und Carlos Ferrer, der ein Spezialist für Mikrofauna war, also für die winzigen Knochen von kleinen Säugetieren, Reptilien und Amphibien. Dadurch, dass Luc Sara und den Spanier für dasselbe Team einteilte, wollte er eigentlich zeigen, dass es ihm nichts ausmachte, wenn die beiden etwas miteinander hatten. Trotzdem wurde ihm jedes Mal flau im Magen, wenn er sah, wie sie sich bei der Arbeit so nahe kamen, dass sie sich fast berührten. Glücklicherweise hatte Desnoyers recht behalten, denn die Fledermauspopulation war fast vollständig aus der Höhle abgewandert. Nur in den letzten Kammern hielten noch ein paar sture Tiere aus, die aber das Team nicht weiter störten.
Sara konzentrierte sich in der ersten Grabungswoche auf einen genau ausgemessenen Quadratmeter des Höhlenbodens an der südwestlichen Wand der zehnten Kammer. Es war die Stelle, an der Luc die Klinge aus Feuerstein entdeckt hatte. Dass der Boden der Höhle mit einer dicken Schicht Fledermauskot bedeckt war, erschwerte Saras Arbeit erheblich, denn in den Ausscheidungen der Tiere fanden sich viele Pollen, und Pollen waren es, nach denen Sara unter anderem suchte. Deshalb versuchte sie zunächst, den Fledermauskot möglichst rückstandslos zu entfernen, um sich danach den im Höhlenboden enthaltenen Pollen und Sporen zu widmen. Anhand dieser Spuren konnte eine Paläobotanikerin wie sie wichtige Rückschlüsse auf die Flora und das Klima während der Zeit ziehen, in der die Höhle bewohnt gewesen war.
Als sie sich zehn Zentimeter unter die Oberfläche vorgearbeitet hatte, fand sie keine Spuren von Fledermauskot mehr, und die schwarzen Segmente wurden hellbraun. Es war die Schicht, in der sich das untere Ende der von Luc gefundenen Klinge befunden hatte.
Als Pierre unter Saras Anleitung den letzten Rest der schwarzen Erde von dem freigelegten Quadratmeter kratzte, sah ihm das ganze Team dabei zu. Nachdem er einige Fotos gemacht hatte, gab Luc grünes Licht, die Grabung fortzusetzen.
Bevor sie weiterarbeiteten, zogen sich alle frische Anzüge, Stiefel und Masken an und holten sich neue Kellen, Bürsten und Spachtel. Damit wollten sie vermeiden, dass die neu freigelegte Bodenschicht mit Pollen und Sporen aus jüngerer Zeit kontaminiert wurde. Als Sara schließlich anfing, erste Proben zu sammeln, kam sie nicht sehr weit. Bereits nach ein paar Minuten hielt sie inne und ließ einen erstaunten Aufschrei hören.
Ferrer beugte sich zu ihr hinunter und rief: »Sieh mal einer an!«
»Ist das Feuerstein?«, fragte Pierre.
Sara überließ ihren Platz Morrison, der in die Hocke ging und den Gegenstand, den Sara gefunden hatte, mit einer feinen Bürste weiter freilegte.
»Das fällt nicht in mein Gebiet«, erklärte der große, weißhaarige Schotte nach ein paar Minuten und deutete auf das glatte, hellbraune Objekt. »Sieht nach einem Knochen aus. Du bist dran, Carlos.«
Ferrer bürstete die letzten Erdkrümel fort und stocherte mit einem Werkzeug, das aussah wie der Haken eines Zahnarztes, rund um das Objekt im Boden herum. »Das ist kein Knochen«, korrigierte er Morrison. »Das ist Horn!«
Nachdem sie sorgfältig das ganze Objekt freigelegt hatten, holte Pierre Luc aus Kammer 1, damit er es noch am Fundort fotografieren konnte.
»Was ist denn so wichtig?«, fragte Luc auf dem Weg in den hinteren Teil der Höhle.
»Ich habe mich verliebt, Chef«, antwortete der Doktorand. Seine Augen funkelten spitzbübisch.
»In wen denn?«
»Fragen
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