Die zehnte Kammer
vom Vater zum Sohn, von der Mutter zur Tochter und im Fall von Ruac von einem Mönch zum anderen weitergegeben wurde. Bruder Jean hatte eine besondere Begabung für die Verfeinerung alter Rezepturen und experimentierte gern. Auch wenn sich ein Hustenwickel viele Jahre lang bewährt hatte, konnte man ihn durch Hinzufügen von etwas Storchenschnabel vielleicht noch wirksamer machen. Und wie wirkte ein Trank gegen Durchfall, wenn man ihn zusätzlich mit Mohn-und Alraunensaft versetzte?
Während seine Gefährten ihm interessiert über die Schulter sahen, gestikulierte Bruder Jean mit seiner Fackel in Richtung des Busches mit den roten Beeren und fünfgliedrigen Blättern. »Mir sieht das aus wie ein Stachelbeerbusch«, erklärte er. »Der Saft dieser Beeren ist gut gegen jede Art der Abgeschlagenheit. Und diese Schlingpflanzen da drüben scheinen aus der Familie der Ackerwinde zu stammen, mit der man Schüttelfrost heilen kann.«
Barthomieu lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den im Gras stehenden Vogelmann an der gegenüberliegenden Wand. »Und was sagt ihr zu dieser Kreatur, Brüder?«, fragte er, während er auf den steifen Penis der Gestalt deutete. »Sie sieht genauso glücklich aus wie die weiter vorn. Täusche ich mich, oder ist das ganz normales Gras, in dem er steht?«
»Du täuschst dich nicht«, erwiderte Jean. »Das ist einfaches Gras. Sein Wert als Heilmittel ist gering, dafür benutze ich es aber ab und zu, um einen Wickel daraus zu fertigen.«
Bernhard schritt langsam die Wände der Kammer ab. »Ich kann es nicht oft genug sagen, so einen eigenartigen Ort gibt es wohl in der ganzen Christenheit kein zweites Mal. Er kommt mir so vor, als ob …«
Auf einmal knirschte es unter seinen Füßen, und Bernhard verlor das Gleichgewicht. Er stürzte zu Boden und ließ die Fackel fallen. Abélard rannte zu ihm hinüber und half ihm wieder auf die Füße. »Alles in Ordnung, mein Freund?«
Bernhard bückte sich, um nach seiner Fackel zu greifen, zog dann aber die Hand wieder zurück, als würde vor ihm eine Schlange liegen. »Großer Gott!«, rief er aus. »Seht euch das hier an!«
Abélard senkte seine Fackel, um zu sehen, was Bernhard so verschreckt hatte. Direkt an der Höhlenwand lag ein Haufen elfenbeinfarbener menschlicher Knochen. Abélard bekreuzigte sich rasch.
Jean gesellte sich zu ihnen und besah sich die Gebeine. »Ich kann zwar nicht sagen, wie lange dieser arme Kerl hier schon liegt«, meinte er, »aber bestimmt sehr lange. Habt ihr seinen Schädel gesehen?« Der Hinterkopf war eingedrückt. »Er hat ein gewaltsames Ende gefunden. Gott sei seiner armen Seele gnädig. Ob das unser Maler ist?«
»Das werden wir wohl nie erfahren«, sagte Bernhard. »Wer auch immer es sein mag, er hat ein christliches Begräbnis verdient. Wir können ihn nicht hierlassen.«
»Da stimme ich dir zu. Wir sollten morgen mit einem Sack wiederkommen und seine sterblichen Überreste holen«, sagte Abélard.
»Sollen wir ihn mit seiner Schüssel begraben?«, fragte Barthomieu.
»Mit was für einer Schüssel?«, fragte Jean.
Barthomieu deutete mit seiner Fackel auf die Sandsteinschüssel, die zwischen den Fußknochen des Skeletts stand. Sie hatte die Größe zweier Männerhände. »Mit der hier!«, sagte er. »Vermutlich war es seine Essschüssel.«
Als die Knochen aus der Höhle unter der Erde lagen und in der Kirche eine Messe für den unbekannten Toten gelesen worden war, griff Bruder Jean nach der hellbraunen Steinschüssel, die er auf den Lesetisch neben seinem Bett gestellt hatte. Sie fühlte sich schwer, glatt und kühl an. Wenn er sie berührte, musste er immer an den Mann denken, der in der Höhle seinen Tod gefunden hatte. Jean besaß einen schweren Mörser, in dem er seine Pflanzen zerrieb. Eines Tages holte er ihn, einer Eingebung folgend, aus der Krankenstube und stellte ihn neben die Schüssel des Höhlenmannes. Die beiden unterschieden sich kaum.
Sein Gehilfe, ein junger Mönch namens Michel, musterte ihn von seinem Hocker in der Ecke des Raumes misstrauisch.
»Was glotzt du so?«, fragte Jean gereizt. »Hast du nichts zu tun?« Der spitzgesichtige Junge war schrecklich neugierig und steckte seine Nase ständig in Dinge, die ihn nichts angingen.
»Nein, Frater Infirmarius.«
»Dann werde ich dir sagen, wie du die Zeit bis zur Vesper nutzen kannst. Wechsle das Stroh in allen Säcken in der Krankenstube. Da sind schon wieder die Wanzen drin.«
Mit säuerlicher Miene schlurfte der junge Mönch aus
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