Die zehnte Kammer
Ersatzschlüssel für das Metalltor, das den Eingang der Höhle von Ruac verschloss.
FÜNFZEHN
Abtei Ruac, 1118
Bernhard lief in seiner Klause ruhelos auf und ab und versuchte, die schwarzen Gedanken zu vertreiben, die ihm durch den Kopf gingen. Die Erlebnisse des letzten Abends hatten ihn so aufgewühlt, dass er fürchtete, dem Wahnsinn nahe zu sein.
Die einzige Abhilfe, das wusste er genau, war zu beten und zu fasten. Er hatte schon dreimal an diesem Tag in der Kirche mit Inbrunst Prim, Laudes und Terz gebetet. Nach diesen gemeinsamen Gebeten mit den anderen Brüdern war er sofort wieder zu seiner Klause marschiert und auf die Knie gefallen, um allein weiterzubeten. Die Gesellschaft der Mitbrüder mied er möglichst. Er wollte allein sein.
Es klopfte an. Bernhard dachte kurz daran, nicht zu antworten, aber sein Sinn für Höflichkeit verbot es ihm. Es war sein Bruder Barthomieu, der mit gebeugtem Kopf hereinschlich. »Kann ich mit dir reden?«
»Ja, komm rein. Setz dich.«
»Du warst heute Mittag nicht beim Essen.«
»Ich faste.«
»Auch beim Frühstück hast du gefehlt, und bei den Stundengebeten machst du ein abweisendes Gesicht. Bist du aus irgendeinem Grund böse oder verärgert?«
»Ich bin zutiefst zerknirscht. Du denn etwa nicht?«
Barthomieu hob den Kopf und sah seinem Bruder in die Augen. »Ich bin nachdenklich. Ich bin erstaunt. Ich fühle mich ein wenig seltsam, aber zerknirscht bin ich nicht.«
Bernhard konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal laut geworden war, aber jetzt brach es aus ihm heraus: »Aber du solltest zerknirscht sein!«, schrie er seinen Bruder an. »Gestern Abend warst du erregt. Erinnerst du dich nicht?«
»Ich erinnere mich sehr wohl«, kicherte Barthomieu, dem die Handknöchel wehtaten. »Ich hoffe, das warst nicht du, den ich schlug, Bruder! Das ist sonst gar nicht meine Art, aber es ist nun mal geschehen.«
»Großer Gott! Du hast versucht, Jean zu schlagen, aber stattdessen hast du einen Kochtopf getroffen!«
»Nun, bei der Erfahrung hat das Gute das Böse doch wohl überwogen«, grübelte Barthomieu. »Zumindest meiner bescheidenen Meinung nach.«
Es klopfte wieder an. »Im Namen des Herrn, warum lässt man mich nicht in Ruhe?«, rief Bernhard. Jean und Abélard traten in die kleine Zelle, in der es nun eng wurde. »Wir haben uns Sorgen um dich gemacht«, sagte Abélard.
»Wir sollten uns lieber Sorgen um unser Seelenheil machen«, erwiderte Bernhard ernst. »Letzte Nacht hat uns der Teufel heimgesucht. Oder zweifelt ihr daran?«
»Ich denke seither an nichts anderes mehr«, antwortete Abélard, »und ich finde, wir sollten alle darüber meditieren. Aber glaubst du wirklich, der Teufel war im Spiel?«
»Wer sonst?«
»Gott vielleicht.«
Bernhard reckte die Arme zum Himmel. »Das war nicht Gott letzte Nacht! Gott will nicht, dass seine Kinder so etwas erleiden.«
»Ich habe nicht gelitten«, erwiderte Jean. »Ganz im Gegenteil. Ich fand die Erfahrung eher … erleuchtend.«
»Ich muss gestehen, dass auch ich nicht gelitten habe, Bruder«, sagte Barthomieu.
»Ich auch nicht«, pflichtete Abélard ihm bei. »Vielleicht gab es den einen oder anderen beunruhigenden Augenblick, aber im Großen und Ganzen würde ich sagen, dass es eher erstaunlich war.«
»Dann frage ich mich, ob wir überhaupt das Gleiche erlebt haben!«, rief Bernhard. »Erzählt mir, was ihr gesehen habt, dann werde ich euch von meiner Erfahrung berichten.«
Wie immer suchte Bernhard Kraft im Gebet. Das war schon so gewesen, als er sich entschieden hatte, sein bequemes Leben aufzugeben und bei den Zisterziensern einzutreten. Und auch jetzt verließ er sich wieder darauf.
Nach einem Nachmittag voller anstrengender und kontroverser Debatten versenkte er sich mit großer Leidenschaft in die Vespergebete, und während das Steingewölbe der Kirche vom Singsang der Mönche widerhallte, fand er seine Antwort in Psalm 140.
Eripe me, Dómine, ab hómine malo;
a viro iníquo éripe me;
Qui cogitavérunt iniquitátes in corde,
tota die constituébant praelia.
Acuérunt linguas suas sicut serpéntis;
venénum áspidum sub lábiis eórum.
Bewahre mich, Herr, vor den bösen Menschen;
vor den Gewalttätigen bewahre mich!
Denn sie haben Böses im Sinn
und erregen täglich Streit.
Sie spitzen ihre Zunge wie eine Schlange;
Otterngift ist unter ihren Lippen.
Custódi me, Dómine, de manu peccatóris;
et ab homínibus iníquis éripe me.
Qui cogitavérunt supplantáre
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