Die zehnte Kammer
Überresten von Menschen zu tun. Die Skelette, die er ausgrub, hatten etwas Sauberes, fast Antiseptisches an sich, und um Gefühle gegenüber diesen Toten zu entwickeln, musste er schon seine Phantasie bemühen. Jetzt wurde er innerhalb weniger Tage zwei Mal mit dem grauenvollen Tod von Menschen konfrontiert, die er gut gekannt hatte. Vor allem Hugos Unfall war fast mehr, als er ertragen konnte.
Die Leiche war schrecklich entstellt. Wie schrecklich, würde Luc nie erfahren, weil er sich nach einem kurzen Blick durchs Seitenfenster auf Hugos elegante, olivgrüne Jacke und ein Stück seines immer noch perfekt frisierten Haarschopfs, neben dem ein völlig zerquetschtes, blutiges Ohr zu sehen war, wieder abgewendet hatte.
Auf der anderen Seite des Autowracks sah Luc plötzlich einen älteren Mann, der durch das Beifahrerfenster schaute. Es war der gutgekleidete Herr, den Luc vor ein paar Wochen im Café von Ruac gesehen hatte.
Luc und der Mann richteten sich gleichzeitig auf und sahen sich über das zusammengeschobene Blech des Wagens hinweg an.
»Da ist ja Dr. Pelay«, sagte Billeter, der neben Luc stand. »Kennen Sie sich, Herr Professor? Dr. Pelay ist der Arzt von Ruac. Er war so nett, herzukommen und den Totenschein auszustellen.«
»Der Tod ist sofort eingetreten«, erklärte Pelay knapp. »Ein glatter Genickbruch zwischen den Wirbeln C1 und C2. Das überlebt niemand.«
Luc fand Pelays Gesicht und seine Stimme grässlich. Beide waren hart wie Stein, ohne eine Spur von Anteilnahme. Als Luc sich umdrehte und gehen wollte, wurde ihm plötzlich übel. Der Polizist und Sara mussten ihn stützen und zurück zum Kleinbus der Gendarmerie begleiten, wo er sich schwer atmend anlehnte.
»Wir haben seine Sekretärin verständigt, die uns gesagt hat, dass er bei Ihnen war«, erklärte Billeter.
»Eigentlich wollte er morgen nach Hause fahren«, sagte Luc, während er sich mit dem Jackenärmel die Tränen aus dem Gesicht wischte.
»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«
»Gegen halb zwölf gestern Nacht bei uns im Camp.«
»Hat er das Gelände danach verlassen?«
Luc nickte.
»Warum?«
»Er wollte zu einer Frau in Ruac.«
»Zu wem genau?«
»Odile Bonnet. Wir waren mit ihr zusammen beim Abendessen. Zu viert«, sagte er, während er auf Sara deutete. »Odile ist danach heimgefahren, aber er wollte sie unbedingt noch einmal sehen.«
»Wusste sie, dass er kommen würde?«
»Er hatte keine Telefonnummer von ihr, und ich glaube auch nicht, dass er ihre Adresse kannte. Aber Hugo wollte es unbedingt wissen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Er hat es nicht bis in den Ort geschafft«, sagte der Polizist. »Wenn er Ihr Camp um dreiundzwanzig Uhr dreißig verlassen hat, dann kann sich der Unfall nicht später als um dreiundzwanzig Uhr vierzig ereignet haben. So, wie es aussieht, muss er ziemlich schnell gefahren und ungebremst in den Wald gerast sein. Wir haben auf der Fahrbahn keinerlei Bremsspuren gefunden. Hat er gestern Abend vielleicht etwas getrunken, Professor Simard?«
Luc machte ein jämmerliches Gesicht. Er fühlte sich schuldig, weil er Hugo nicht zurückgehalten hatte. Aber bevor er antworten konnte, kam Sara ihm zu Hilfe. »Wir haben alle etwas Wein zum Essen getrunken«, sagte sie. »Bis auf Luc, der uns von Domme nach Hause gefahren hat. Als wir zurück ins Camp kamen, waren wir alle wieder einigermaßen nüchtern.«
»Wie nüchtern, werden wir bald sehen«, sagte Billeter. »Der Gerichtsmediziner hat dem Toten eine Blutprobe entnommen.«
»Ich hätte ihn nicht allein los lassen sollen«, stieß Luc hervor. »Ich hätte ihn fahren müssen.«
Der Gendarmerieoffizier sagte nichts dazu und ließ die beiden stehen.
Sara schien nicht zu wissen, was sie tun oder sagen sollte. Schließlich legte sie Luc ihre Hand auf die Schulter.
Ein anderer Wagen traf an der Unfallstelle ein. Odile und ihr Bruder stiegen aus und wollten zu Luc und Sara, aber einer von Billeters Männern hielt sie zurück und fragte sie offenbar etwas.
Odile schrie laut auf.
Sara wollte zu ihr gehen, doch da packte einer der Feuerwehrmänner Odile am Arm. Es war ihr Vater, der Bürgermeister, der in seiner Feuerwehruniform noch breiter wirkte als sonst.
Bonnet zog seine Tochter weg, und Sara tat dasselbe mit Luc. »Komm mit«, sagte sie, während sie ihn in Richtung Auto schob. »Wir können hier nichts mehr tun.«
Die Nachmittagssonne drang nur zaghaft durch das Fenster von Lucs Wohnwagen. Luc lag im Halbdunkel seiner
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