Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die zehnte Kammer

Die zehnte Kammer

Titel: Die zehnte Kammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glenn Cooper
Vom Netzwerk:
etwa zehn Personen zählte, seine Speere zu schütteln und wie wild auf und ab zu springen. Obwohl sie außer Hörweite waren, erkannte Tal genau, dass sie laute Schreie ausgestoßen hatten, denn die Rentiere rannten plötzlich in wilder Flucht auf den nahen Wald zu. Kurz darauf verschwanden auch die Menschen zwischen den Bäumen.
    Einer der jungen Männer vom Wisentklan, ein Hitzkopf, der nach Tal der beste Speerwerfer war, stieß einen gellenden Kriegsschrei aus. Die Rentiere gehörten dem Klan. Sie mussten die Eindringlinge verscheuchen, ein für alle Mal.
    Tal nickte zustimmend und sagte, dass sie hier oben aber leider viel zu weit entfernt seien, um etwas zu unternehmen. Insgeheim allerdings war er ganz froh, dass er nichts tun musste. Heute war ein heiliger Tag, an dem er sich nicht mit den Schattenmenschen herumschlagen wollte.
     
    Viele Jahre vergingen.
    Jeden Tag, an dem er nicht jagte, heilte oder etwas anderes für seinen Klan tat, verbrachte Tal in seiner Höhle, trank Flugwasser und malte.
    Zwei Mal im Jahr, vor jeder großen Wisentjagd, schickte er die gerade zu Männern gewordenen Jungen des Klans hinauf in die Höhle, wo er sie im gelben Schein der Talglampe vor sein zweiteiliges Bild mit der Wisentherde und dem Vogelmann stellte, der seinen Speer in den Bauch eines der Wisente geschleudert hatte. Die Jungen blickten auf den Wisent, dem die Gedärme aus dem Leib quollen, und stimmten mit ihren hohen Stimmen den Gesang an ihre Ahnen an, und der Rest des Klans, der die Rolle der Ahnen übernommen hatte, antwortete ihnen mit tiefen Stimmen aus dem Dunkel der Höhle.
    Danach gab Tal jedem der Jungen einen Schluck Flugwasser und wartete zusammen mit dem Klan, dass sie in einen tranceähnlichen Zustand gerieten, bevor er sie in den hinteren Teil der Höhle führte, vorbei an seinen Bildern von Löwen, Bären, Rothirschen und einem Mammut mit wolligem Fell. Die Jungen starrten sie mit weit aufgerissenen Augen an. Tal erkannte an ihrem Blick, dass sie im Geiste neben diesen Kreaturen durch die Landschaft flogen, nah genug, um die Hitze ihrer Körper zu spüren und ihre Seelen mit den Seelen der Tiere verschmelzen zu lassen. Die Jungen hatten die Wände der Höhle durchschritten wie den Vorhang eines Wasserfalls, hinter dem sich eine ganz neue Welt auftut. Später, wenn sich ihre Visionen in Wut verwandelten, brüllten sie einander an und gingen aufeinander los. Die anderen Männer des Klans passten auf, dass sie sich dabei nicht gegenseitig wehtaten.
    Obwohl Tal sich eine große Nachkommenschaft wünschte, gebar ihm Uboas nur zwei Kinder, beides Söhne. Dann konnte sie nicht mehr empfangen, und alles Flehen zu den Ahnen konnte ihren Schoß nicht wieder fruchtbar machen. Immerhin überlebten beide Söhne die Kindheit und wuchsen zu gesunden, starken Jungen heran. Als Tal seine eigenen Söhne mit in die Höhle nahm und sie zu erwachsenen Männern des Klans machte, war er so stolz wie nie zuvor in seinem Leben. Sein älterer Sohn Mem war sein erklärter Liebling, und ihm vermittelte er all sein Wissen. Der Junge würde zu einem Schamanen werden, der nächste Anführer des Klans.
    Mem lernte schnell und erwies sich bald als ein ähnlich guter Maler wie sein Vater. Seite an Seite arbeiteten sie in der Höhle und sprühten aus ihren Mündern die schönsten Kreaturen an die Wände. Um auch die oberen Bereiche der Wände und die Höhlendecke bemalen zu können, errichteten Vater und Sohn Kletterhilfen aus Ästen, die sie mit Schlingpflanzen zusammenbanden. Auf diese Weise malten sie eine Kammer nach der anderen aus.
    Am Anfang seiner Lehrzeit machte der Junge eines Tages einen Fehler. Er spuckte gerade roten Ocker an seine ausgestreckte Hand, die mit Daumen und Handgelenk den Umriss eines Rehbeins formte. Weil es irgendwo im Holzgerüst gefährlich knackte, spuckte er die Farbe in einem so kräftigen Strahl an die Wand, dass danach das negative Abbild seiner kompletten Hand dort prangte, wo eigentlich der Hinterlauf des Rehs hätte sein sollen. Der Junge erschrak und wartete auf einen Tadel seines Vaters, aber dem gefiel das Abbild der Hand, das sein Sohn aus Versehen geschaffen hatte, so gut, dass er es selbst an einer anderen Stelle der Wand ebenfalls probierte.
    Aus dem einen Abbild einer Hand wurden so zwei, und im Lauf der Zeit kamen noch viele andere hinzu, die nicht nur von der Schaffensfreude des Menschen, sondern auch vom Stolz eines Vaters auf seinen Sohn zeugten.
    Erst viele Jahre später, nachdem Tal die

Weitere Kostenlose Bücher