Die zehnte Kammer
Kunst entdeckt hatte, aus Malachitkristallen grüne Pigmente herzustellen, machte er sich zusammen mit Mem und seinem anderen Sohn ans Ausmalen der zehnten und letzten Kammer der Höhle. Sie krochen durch einen engen Felstunnel in diesen Teil der Höhle, den sich Tal bis zuletzt aufgespart hatte. Es war der allerheiligste aller heiligen Orte, und sie schmückten ihn mit den Bildern der Pflanzen, denen sie ihren Flugtrank verdankten.
Inmitten dieser Pflanzen malte Tal eigenhändig den lebensgroßen Vogelmann, seinen fliegenden Geist, sein anderes Selbst.
VIERUNDZWANZIG
Dienstag
Nachdem Luc dreimal vergeblich bei Sara angerufen hatte, versuchte er es jede Stunde wieder, ohne sie an den Apparat zu bekommen. Da er ihr inzwischen erfolglos auch eine Unzahl von Kurzmitteilungen geschrieben hatte, besorgte er sich nun bei der Auskunft ihre Privatnummer in London. Doch da konnte er sie ebenso wenig erreichen wie in ihrem Büro. Immer war nur ihr Anrufbeantworter dran, und nachdem Luc mehrere Nachrichten darauf hinterlassen hatte, legte er auf, sobald er den Piepton hörte.
Er selbst war wieder in Bordeaux, in seiner gemütlichen Wohnung, nur wenige Gehminuten vom Campus der Universität entfernt. Er wurde ständig von einem sich schneller und schneller drehenden Strudel der Emotionen herumgewirbelt, bis ihm schwindlig wurde. Groll, Frustration, Traurigkeit wechselten einander ab. Und dabei sehnte Luc sich immer wieder schrecklich nach Sara.
Luc war normalerweise nicht der Typ, der sich viel mit Gefühlen beschäftigte, aber diesmal konnte er sie nicht einfach wegschieben. Sie bestimmten sein Denken, ließen ihn auf seine Möbel eindreschen, in sein Kopfkissen schreien, und immer wieder musste er den Drang unterdrücken, hemmungslos loszuheulen.
Wenn das Telefon klingelte, schaute er erst aufs Display. Kannte er die Nummer nicht, ging er nicht ran. Ständig wollten Reporter, unter ihnen auch Gérard Girot von Le Monde, eine Stellungnahme von Luc, aber das Ministerium hatte ihm einen Maulkorb verpasst. Sämtliche Kontakte zur Presse hatten ausschließlich über Marc Abenheim zu laufen.
Mit wem konnte Luc jetzt schon reden, wenn nicht mit Sara? Hugo hätte er anrufen können, aber der war tot, ebenso wie Jeremy und Pierre, mit denen er sich hin und wieder auf ein Bier getroffen hatte. Anrufe bei irgendwelchen Exfreundinnen wären jetzt völlig überflüssig gewesen.
Selbst sein Schweinehund von einem Vater war tot. Lucs an Alzheimer erkrankte Mutter lebte zwar noch, allerdings sowohl geographisch als auch neurologisch in einer anderen Welt, in der er sie nicht mehr erreichen konnte. Wenn er Pech hatte, bekam er den Dermatologen, mit dem sie jetzt zusammen war, an die Strippe.
Es blieb Luc tatsächlich nun niemand mehr außer Sara. Warum ging sie nicht ans Telefon und antwortete auf keine seiner Kurzmitteilungen und E-Mails? Er hatte sie in blinder Panik in der Hölle des Nuffield-Hospitals einfach und ohne jede Rücksicht zurückgelassen. »Notfall!«, hatte er ihr nur zugerufen und war verschwunden. In seinen Nachrichten hatte er angedeutet, was im Camp passiert war. Jetzt stand es natürlich inzwischen in allen Zeitungen. Vermutlich hatten sich auch längst andere Mitglieder des Teams bei Sara gemeldet. Sie musste einfach wissen, was passiert war.
Wo steckte sie?
Luc trank sonst nicht allein, aber im Lauf des Nachmittags leerte er eine volle Flasche Rum, die von einer Party übrig geblieben war. In seinem benebelten Kopf gestand er es sich dann endlich: Sara war mit ihm fertig, und zwar endgültig. Sie hatte alle Brücken zwischen ihnen verbrannt. Sie hatte schlimme Zeiten mit ihm durchgemacht, und er hatte sie mehr als einmal verletzt. Wahrscheinlich hatte er genau das wieder getan, als er sie in Cambridge hatte stehenlassen. Es war, als läge ein Fluch über ihm. Autos versuchten ihn auf offener Straße zu überfahren. Rings um ihn starben die Leute. Möglicherweise würde er das nächste Mal von Sara hören, wenn sie ihm eine Mail mit den angehängten Befunden über ihre Pollenuntersuchungen schickte, unterschrieben »mit freundlichen Grüßen, Sara«. Oder vielleicht nicht mal das. Denkbar, dass Abenheim sie bereits kontaktiert und ihr gesagt hatte, sie solle von nun an ausschließlich mit ihm korrespondieren. Vielleicht war er es gewesen, der ihr verboten hatte, mit Luc zu kommunizieren.
Abenheim sollte sich zum Teufel scheren. Ruac ist meine Höhle, dachte Luc.
Er ließ sich ein Bad ein, und während er im
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