Die zehnte Kammer
Tochter, die ihre Mutter nicht kannte.
Aber auch Tränen der Freude über Abélards wundersamen Sieg über die Verletzung, die ihr grausamer Onkel ihm beigebracht hatte, und seinen unbezwingbaren Geist.
Ihre Nonnen wurden aus Argenteuil herbefohlen, um sich zu ihr an diesen neuen Ort zu gesellen, und Abélards Brüder verließen das Kloster, damit Paraclete eine reine Frauengemeinschaft werden konnte.
Bei einer Messe in der Kirche weihte Abélard Héloïse zur Äbtissin und überreichte ihr eine Kopie der Ordensregeln und das Baculum, ihren Hirtenstab. Sie nahm ihn fest in die Hand und sah Abélard tief in die Augen.
Später, als er auf dem Weg nach Westen war und glaubte, dass er sie niemals wiedersehen würde, stillte sie ihre Tränen und lief beseelt zu ihren in der Kapelle versammelten Nonnen, um ihnen zum ersten Mal die Vesper zu lesen.
Abélards Zeit in der Bretagne erwies sich als kurz. In seinem Gram gab er sich streng und bestimmend. Da seine neue Herde einen weniger unnachgiebigen Meister erwartet hatte, brachte er die Leute rasch gegen sich auf. Er schrieb wie ein Besessener, betete mit Groll in den Augen, kürzte seinen Mönchen die Essensrationen und ließ sie arbeiten wie Tiere unter dem Joch. Seine einzige Freude war der gelegentliche Genuss seines Tranks, der ihn von seinem Unglück ablenkte und ihm neue Kraft verlieh. Als seine Mitbrüder von Saint-Gildas-de-Rhuys in ihrem Missmut über seine despotische Herrschaft versuchten, ihn zu vergiften, wusste er, dass es an der Zeit war, weiterzuziehen.
Damit begann das letzte Kapitel seines Lebens, fünfzehn rastlose Jahre, die ihn nach Nantes, Mont-Ste-Geneviève und wieder nach Paris brachten, wo er Studenten um sich sammelte wie ein Eichhörnchen Nüsse für den Winter. An jedem dieser Aufenthaltsorte sorgte er dafür, dass er ausreichend von seinen Pflanzen und Beeren hatte, und es verging keine Woche, in der er nicht den aus ihnen gebrauten Trank genoss.
Weil ihm ein Leben mit seiner einzigen Liebe versagt blieb, hatte er wenig zu verlieren und äußerte freimütig seine Gedanken. In jedem seiner vielen Traktate, in jedem seiner Bücher griff er mit seiner überragenden Intelligenz die Traditionen der Kirche an, und alle seine Werke fanden schließlich ihren Weg zu Bernhard, dessen Einfluss als Theologe inzwischen nur noch von dem des Papstes übertroffen wurde.
In seiner Schrift Sic et Non machte sich Abélard fast lustig über die orthodoxe Kirchenführung und führte die Kirchenväter vor. Zähneknirschend musste Bernhard jedoch feststellen, dass die Arbeit an sich nicht zu beanstanden war. Endgültig war es mit Bernhards Geduld aber vorbei, als Abélards Expositio in Episfolam ad Romanos erschien, in der er an den Grundfesten der Buße rüttelte und damit der Kirche quasi vor die Füße spuckte. War Christus nicht als Buße für die Sünden der Menschen am Kreuz gestorben? Offenbar nicht für Abélard! Er behauptete, dass Christus gestorben sei, um durch ein Beispiel versöhnender Liebe die Herzen der Menschen zu gewinnen! Das war zu viel.
Bernhard unternahm alles in seiner Macht Stehende, um Abélard ein für alle Mal zu vernichten. Die Zeit für private Ermahnungen war vorüber, und Bernhard legte die Angelegenheit den Bischöfen von Frankreich vor. Im Jahr 1141 wurde Abélard vor das Konzil von Sens befohlen und musste seine Ansichten dort vertreten. Abélard rechnete damit, dort in offenen Disput mit seinem Ankläger und alten Freund zu treten, wie sie es während ihrer Genesungszeit in Ruac so oft getan hatten.
Als Abélard aber in Sens eintraf, erfuhr er zu seinem Entsetzen, dass sich Bernhard bereits am Abend zuvor mit den Bischöfen getroffen hatte und das Urteil über ihn schon gefällt war. Es würde keine öffentliche Debatte geben, und das Konzil ließ Abélard nur deshalb seine Freiheit, damit er nach Rom reisen konnte, um dort beim Papst Berufung einzulegen.
Er kam nie bis nach Rom.
Bernhard sorgte dafür, dass Papst Innozenz II. das Urteil des Konzils von Sens bestätigte, noch bevor Abélard Frankreich verlassen konnte. Dieser Umstand hatte aber ohnehin keine Bedeutung mehr, denn Abélard zeigte bereits erste Anzeichen von Schwindsucht, mit der er sich wohl bei einem seiner Studenten angesteckt hatte.
Wenige Wochen nach dem Konzil von Sens wurde er krank. Erst kamen Fieber und nächtliche Schweißausbrüche, dann ein schlimmer Reizhusten, der sich zu minutenlangen Hustenkrämpfen entwickelte. Schließlich spuckte er
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