Die zehnte Kammer
beide vom gleichen Fleisch und Blut. Bernhard verließ das Kloster Ruac und reiste zurück nach Clairvaux, weil wir nicht bereit waren, fortan auf unseren Trank zu verzichten. Insgeheim wussten wir, dass wir das auch nicht mehr konnten.«
SIEBENUNDZWANZIG
Kloster St. Marcel, 1142
Für ein so bescheidenes Kloster wie St. Marcel war es eine außergewöhnliche Zusammenkunft. Das Kloster lag, ein gutes Stück vom Fluss Saône entfernt, in einem dichten Waldgebiet und war nicht dafür ausgestattet, eine große Zahl von Pilgern zu beherbergen. Und doch kamen sie aus allen Himmelsrichtungen Frankreichs. Wie so unterschiedliche Menschen aus allen Schichten der Bevölkerung vom bevorstehenden Ableben eines einzigen Mannes erfahren hatten, konnte niemand mit Bestimmtheit sagen.
Abélard, der große Lehrer, Philosoph und Theologe, lag im Sterben.
Um ihn noch einmal zu sehen, kamen Studenten, Anhänger und Bewunderer, die in den verschiedenen Abschnitten seines Lebens mit ihm zu tun gehabt hatten. Und sie kamen von überall her – aus Paris, Nogent-sur-Seine, Ruac, den Abteien von Saint-Denis und St. Gildasde-Rhuys, Paraclete in Ferreux-Quincey und schließlich aus seiner letzten, friedvollen Zufluchtsstätte in der Nähe von Cluny. Abélard hatte sein Leben mit Lehren und Wandern, Denken und Schreiben verbracht, und hätte nicht die gefürchtete Weiße Pest, die Schwindsucht, ihm die Lunge zerfressen, dann hätte er mit seinem Charisma sicherlich noch mehr Schüler angezogen.
Die Krankenstube war nicht viel mehr als eine Strohhütte, und auf dem zertrampelten Gras einer Lichtung zwischen der Hütte und der Klosterkapelle hatten an die vierzig Männer ihr Lager aufgeschlagen, wo sie, wenn sie nicht gerade Abélard besuchten, beteten und diskutierten.
Der Weg von Ruac nach St. Marcel war für Abélard eine vierundzwanzig Jahre dauernde Reise durch das Leben und die Liebe gewesen. Als seine Gesundheit wiederhergestellt war, hatte er die Abtei Ruac verlassen und war zum Kloster St. Denis gereist, wo er als einfacher Benediktinermönch eine äußerst fruchtbare Schaffensperiode erlebt hatte. In dieser Zeit der Meditation und des Schreibens hatte er nicht nur seine kontroverse und von der kirchlichen Orthodoxie mit großer Skepsis aufgenommene Abhandlung über die Dreifaltigkeit verfasst, sondern auch viele leidenschaftliche Briefe an seine geliebte Héloïse geschrieben, die immer noch ins Frauenkloster von Argenteuil verbannt war.
Es war für Abélard eine ausgesprochen lebhafte Zeit. Seine Wissbegier, seine messerscharfe Intelligenz und seine unbändige Lebenskraft ließen ihn an den Fundamenten überkommenen Gedankenguts rütteln. Und wann immer sein Geist erschlaffte, brach er mit einem Weidenkorb in die Wälder und Wiesen rings um die Abtei auf, um dort zur Belustigung seiner ahnungslosen Mitbrüder ganz bestimmte Pflanzen und Beeren zu sammeln.
Abélard hatte seine ganz eigene Dreifaltigkeit, um die all sein Denken kreiste: die Theologie, die Philosophie und Héloïse. In den beiden ersten Punkten konnten es nur wenige Männer mit ihm aufnehmen, beim dritten konnte jeder Mann seine Sehnsüchte verstehen.
Héloïse, die süße Héloïse, blieb die Liebe seines Lebens, der strahlende Leuchtturm auf einem weitentfernten Hügel, der ihn immer sicher nach Hause gelotst hatte. Aber sie war eine Nonne, und er war ein Mönch, und beide hatten sich Jesus Christus verschrieben. Alles, was sie tun konnten, war, sich brennend heiße Briefe zu schreiben.
Weder Abélard noch Bernhard von Clairvaux hätten sich je vorstellen können, dass ausgerechnet ihre neuerwachte Feindschaft es war, die schließlich eine Brücke zwischen den beiden unter einem schlechten Stern stehenden Liebenden schlagen sollte.
Als Bernhard Ruac verließ und nach Cîteaux zurückging, war sein Körper zwar geheilt, aber sein Geist zutiefst verstört. Er machte sich große Sorgen wegen der Entscheidung seines Bruders Barthomieu, dem Gebräu des Teufels nicht zu entsagen. Nach längerem Nachdenken kam er zu dem Schluss, dass dies Abélards Schuld sei – schließlich war niemand unter den in diese Vorgänge Eingeweihten intelligenter und redegewandter als der liebeskranke Kastrat. Sein armer Bruder war nur ein willfähriges Werkzeug, der wahre Übeltäter hieß Abélard.
Aus diesem Grund nutzte Bernhard seinen wachsenden Einfluss in der Kirche dazu, stets ein waches Auge auf den abtrünnigen Mönch zu haben. Als ihm Abélards Abhandlung über die
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