Die zehnte Kammer
gegenwärtige Heilige Vater schätzte seinen Rat mehr als den eines jeden anderen. Er war ein Förderer des Ordens der Tempelritter. Er hatte einen guten Namen bei Kreuzfahrern und große Schismen innerhalb der Kirche geheilt. Wer war dieser Mönch, dass er ihn einfach beim Vornamen nannte?
Er schaute wieder in die Augen des Mönchs. Kannte er ihn am Ende doch?
»Barthomieu?«, fragte Bernhard erstaunt. »Bist du es wirklich?«
»Ja, ich bin es.«
»Aber das kann nicht sein. Dafür bist du viel zu jung.«
»Es gibt einen, der noch jünger ist.« Er rief hinüber zum Lagerfeuer.
»Nivard, komm her.«
Nivard rannte herbei. Bernhard hatte ihn seit einem halben Menschenleben nicht mehr gesehen, und eigentlich hätte sein jüngster Bruder Nivard Mitte vierzig sein müssen. Doch dieser stramme, jugendliche Kerl sah aus, als wäre er nicht einmal halb so alt.
Die drei Brüder umarmten sich, wobei Bernhards Umarmungen die zaghaftesten und vorsichtigsten waren.
»Ärgere dich nicht über uns, Bruder«, sagte Barthomieu. »Wir werden dir später alles erklären. Jetzt aber solltest du nach Abélard schauen, solange er noch am Leben ist.«
Als Bernhard und Barthomieu die Hütte betraten, drehte sich Héloïse um und legte ihren Zeigefinger auf die Lippen. Erst dann erkannte sie, wer da eingetreten war.
Sie stand auf und wollte Bernhards Ring küssen, aber er winkte ab und sagte ihr, sie solle sich wieder zu Abélard setzen.
»Eure Exzellenz, ich bin –«
»Ich weiß, wer du bist. Du bist Héloïse, die Äbtissin von Paraclete. Ich weiß von deiner Klugheit und deiner Frömmigkeit. Wie geht es ihm?«
»Er schwindet dahin. Kommt. Noch ist er unter uns.«
Sie berührte Abélards spitze Schulter. »Wach auf, mein Lieber. Hier ist jemand, der dich sehen möchte. Dein alter …« Sie blickte fragend hinüber zu Bernhard.
»Sein alter Freund«, sagte er. »Nenn mich seinen alten Freund.«
»Dein alter Freund, Bernhard von Clairvaux, ist gekommen, um dich zu sehen.«
Ein schwaches Husten signalisierte, dass Abélard wach war. Bernhard trat ans Bett und war schockiert von dem Anblick, der sich ihm bot. Nicht nur, dass Abélard schrecklich abgemagert war, er sah zudem wie ein sehr viel jüngerer Mann aus.
»Abélard also auch!«, zischte Bernhard seinem Bruder zu.
Barthomieu, der in der Ecke stand, hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Er nickte.
Mit Mühe brachte Abélard ein Lächeln zustande. Er hatte gelernt zu sprechen, ohne einen Hustenanfall zu verursachen, und gab deshalb kehlig klingende Laute von sich. »Bist du gekommen, um mir mit einer letzten, schweren Last mein Ende zu bereiten?«, fragte er.
»Nein, ich bin hier, um dir die letzte Ehre zu erweisen.«
»Mir war nicht bewusst, dass du mich noch einer Ehre für würdig hältst.«
»Als Mensch genießt du meinen höchsten Respekt.«
»Und was ist mit meinen Ansichten?«
»Die sind etwas anderes. Aber diese Auseinandersetzungen sind für mich vorbei.«
Abélard nickte.
»Hast du Héloïse getroffen?«
»Gerade eben.«
»Sie ist eine gute Äbtissin.«
»Davon bin ich überzeugt.«
»Und sie ist eine gute Frau.«
Bernhard sagte nichts.
»Ich liebe sie. Ich habe sie immer geliebt.«
Bernhard schien peinlich berührt. Abélard verlangte, mit Bernhard unter vier Augen zu sprechen, und als Héloïse und Barthomieu sich zurückgezogen hatten, winkte er ihn an sein Krankenbett. »Darf ich dir etwas sagen, was nur ein Freund zu sagen vermag?«
Bernhard nickte.
»Du bist ein großer Mann, Bernhard. Du hast alle schweren christlichen Bürden auf dich genommen.. Du fastest, du wachst, du leidest. Die Bürde des Lebens aber kannst du nicht ertragen – du liebst nicht.«
Der alte Mann ließ sich auf einen Stuhl neben dem Bett fallen. Seine Augen füllten sich mit Tränen. »Liebe.« Er sprach das Wort aus, als ob es seiner Zunge fremd wäre. »Vielleicht hast du recht, alter Freund.«
Abélard zwinkerte ihm verschwörerisch zu. »Ich verzeihe dir.«
»Danke«, antwortete Bernhard mit einer Spur von Belustigung. »Möchtest du vielleicht bei mir die Beichte ablegen?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob mir genügend Zeit bleibt, um alle meine Sünden zu beichten. Seit jener Nacht in Ruac, in der wir den Trank einnahmen, haben wir uns nicht mehr gesehen.«
»Ja, dieser Trank.«
Abélard erlitt einen Hustenanfall, der sein Mundtuch rot färbte. Als er wieder ruhiger atmete, sagte er: »Lass mich dir von dem Trank erzählen.«
Zwei Tage später war
Weitere Kostenlose Bücher