Die zehnte Kammer
Abélard tot. Héloïse nahm seinen Leichnam mit zurück nach Paraclete, wo sie ihn auf einer kleinen Anhöhe neben der Kapelle begrub. Sie erreichte ein hohes Alter und wurde 1163, ihrem Wunsch gemäß, neben ihm bestattet, um in Ewigkeit an seiner Seite zu ruhen.
ACHTUNDZWANZIG
Donnerstagmittag
Die Taxifahrt zum Palais-Royal war so kurz, dass Luc nicht viel Zeit blieb, um über das soeben Gehörte nachzudenken.
War es möglich, dass es eine Verbindung zwischen dem alten Manuskript und dem Blutvergießen der letzten Wochen gab? Wie konnte die phantastische Erzählung eines Mönchs aus dem 12. Jahrhundert von teuflischen Getränken und klösterlichen Intrigen nach neunhundert Jahren noch Auswirkungen auf sein eigenes heutiges Leben haben?
Nachdem Isaak mit dem Übersetzen des entschlüsselten Textes fertig gewesen war, hatte er aufgeregt gesagt: »Wissen Sie, Luc, ich weiß nichts über diese Mixtur, dieses Gebräu, von dem Barthomieu schreibt, aber die Schilderung der Vorgänge aus erster Hand und der Schlusssatz dieser Liebesgeschichte zwischen Abélard und Héloïse sind einfach unbezahlbar. Deshalb mache ich Ihnen jetzt als Geschäftsmann ein Angebot: Sollte die Handschrift wiederauftauchen und das Kloster sie an ein Museum oder den Staat verkaufen wollen, würde ich mich gerne als Zwischenhändler anbieten.«
»Ich hoffe schwer, dass das Buch wiederauftaucht. Aber ich bin der falsche Adressat für Ihr Angebot, das müssen Sie dem Abt von Ruac machen.«
Isaak nickte und versprach Luc, er würde sich wieder melden, sobald der nächste Teil des Manuskripts dechiffriert sei. Sie verabredeten sich danach zum Abendessen, wo sie auch einen Schluck auf Hugo trinken wollten.
Wenn es auch sinnlos war, versuchte Luc dennoch zwanghaft weiterhin, Sara zu erreichen, während das Taxi im erstaunlich schwachen Mittagsverkehr den weitläufigen Place de la Concorde umrundete. Luc warf einen geistesabwesenden Blick auf seine Fingerknöchel, die jetzt fast gar nicht mehr rot waren. Die neuen Tabletten taten definitiv ihre Wirkung. Er hatte fast ein schlechtes Gewissen, wenn er sie nahm. So viele Menschen waren gestorben, Sara war verschwunden, und er machte sich Sorgen wegen einer banalen Entzündung. Erst ärgerte er sich über sich selbst, und daraus wurde schnell tiefe Melancholie. Luc vergrub sein Gesicht in den Händen und schüttelte den Kopf, als könne er dadurch die quälenden Dämonen darin vertreiben. Er durfte jetzt nicht in Selbstmitleid versinken. Es gab viel zu tun.
Maurice Barbier hatte sich kurzfristig zu einem Treffen mit ihm bereit erklärt. Der Mann war Luc im Lauf der Zeit immer sympathischer geworden. Während Babiers an Einstein erinnernder Haarschopf und die dazu passende graue Krawatte ihm früher eher etwas Dandyhaftes verliehen hatten, stand beides ihm als älterem Mann ausnehmend gut. Auch sein Büro im Ministerium umgab durch seine verspielte Überladenheit mit archaischen Artefakten und vorklassischen Kunstwerken ein Hauch von Extravaganz. Je älter Barbier wurde, desto weniger lächerlich wirkte das Ganze. Er legte Luc eine Hand auf die Schulter und führte ihn zu einer mit goldenen Schnitzereien verzierten Getränkevitrine.
Als Luc begriff, dass er mit Barbier allein reden konnte, entspannte er sich ein wenig. »Haben Sie denn geglaubt, ich würde Marc Abenheim zu unserem Treffen hinzubitten?«, fragte Barbier, als er das bemerkte.
»Möglicherweise.«
»Ich habe viel zu viel Respekt vor Ihnen, um Sie mit solchen politischen Taschenspielertricks auszutricksen«, sagte Barbier. »Abenheim weiß nicht einmal, dass Sie hier sind.«
»Ich brauche Ihre Hilfe«, sagte Luc.
»Sagen Sie mir, was ich für Sie tun kann.«
»Geben Sie mir meine Höhle zurück.«
Barbier nahm einen Schluck Sherry und blickte hinüber zu einer etruskischen Urne in der Ecke des Raumes, als könnten ihm die darauf abgebildeten Krieger etwas von ihrer Stärke abgeben. »Es tut mir leid, aber das kann ich nicht.«
In diesem Augenblick wusste Luc, dass er verloren hatte. Auch wenn es Barbier nicht gefiel, stand er hinter Lucs Absetzung. Eigentlich hätte Luc jetzt seinen Sherry austrinken und gehen müssen, aber er konnte nicht so einfach aufgeben. Er musste kämpfen.
»Glauben Sie denn den Unsinn, Maurice, dass die Dinge, die während der Ausgrabung geschehen sind, auf ein Pflichtversäumnis des Grabungsleiters zurückzuführen sind?«
»Das glaube ich nicht, und ich möchte, dass Sie das wissen.«
»Warum wurde
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