Die zehnte Kammer
nur noch Blut. Sein Appetit verschwand wie eine langsam versiegende Quelle, und Abélard verlor immer weiter an Gewicht.
Sogar der Wunsch nach seinem roten Tee entschwand.
Als Abélard auf seiner Reise nach Rom in der Abtei von Cluny Station machte, sprach einer seiner alten Wohltäter, der ehrwürdige Abt Pierre, ein Machtwort.
Pierre verbot ihm die Weiterreise und verordnete ihm strenge Bettruhe. Er erwirkte in Rom eine Abmilderung des Urteils und brachte sogar Bernhard dazu, sich mit seinen Angriffen auf Abélard zurückzuhalten, weil dieser im Sterben lag. Sei eine weitere irdische Verfolgung des Mönchs nicht nutzlos und grausam?, hatte Pierre gefragt, und Bernhard hatte ihm mit einem tiefen Seufzer zugestimmt.
Im neuen Jahr wurde Abélard immer schwächer, und als der Frühling kam, hielt Pierre es für besser, ihn ins Kloster von St.-Marcel zu verlegen, ein Filialkloster von Cluny, wo es ruhiger zuging und man dem Sterbenden bessere Pflege angedeihen lassen konnte.
Ein Zug von Nonnen schlängelte sich durch die Bäume und ritt in die Lichtung hinein. Es war ein windiger Aprilabend, und die Männer im Lager hörten mit dem Kochen auf und erhoben sich. Als der Wind die Haube der ersten Nonne nach hinten blies, ging ein Raunen durch die Anwesenden. Sie saß aufrecht im Sattel und hatte ihr langes, graues Haar zu einem Zopf geflochten. Ein Mönch hob ihren Schleier auf, den der Wind fortgeweht hatte, und half ihr, vom Pferd zu steigen.
»Willkommen, Äbtissin«, sagte er, als ob sie sich gut kannten.
»Haben wir einander schon getroffen, Bruder?«, fragte sie.
»Ich bin ein Freund Eures Freunds«, sagte er. »Mein Name ist Barthomieu, und ich komme aus der Abtei von Ruac.«
»Das ist viele Jahre her«, sagte sie und musterte ihn neugierig.
»Möchtet Ihr, dass ich Euch zu ihm bringe?«, fragte Barthomieu.
Sie holte tief Luft. »Dann komme ich also nicht zu spät.«
Eine Bettdecke war bis zu Abélards Kinn hochgezogen. Er schlief. Obwohl die Schwindsucht sein Gesicht ausgezehrt hatte, flüsterte Héloïse, dass er besser aussähe, als sie erwartet habe. Dann kniete sie sich neben sein Bett und faltete die Hände zum Gebet.
Abélard öffnete die Augen.
»Héloïse!« Er war so schwach, dass es mehr wie ein Atemzug klang.
»Ja, mein Lieber.«
»Du bist gekommen.«
»Um bei dir zu sein.«
»Bis zum Ende?«
»Unsere Liebe wird nie enden«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Barthomieu, der hinter ihr stand, entschuldigte sich, damit sie allein sein konnten.
Den ganzen Abend und die ganze Nacht über wartete Barthomieu wie ein Wachtposten vor der Hütte. Héloïse blieb bis zum ersten Licht des Morgens, entschuldigte sich für eine Weile, bevor sie gestärkt und frischgemacht wieder zurück an Abélards Krankenbett trat. Als Barthomieu sie fragte, ob sie die Hilfe des Infirmarius brauche, wies sie das Angebot zurück und sagte, sie wäre vollauf in der Lage, alle Bedürfnisse des Kranken zu befriedigen.
Später am Tag gab es einen Tumult, als berittene Soldaten des Königs mit lauten Rufen am Kloster ankamen. Barthomieu stellte sich ihnen in den Weg, hörte sich an, was sie zu sagen hatten, und wurde bleich.
»Wann kommt er an?«, fragte er.
»Er ist nicht weit weg hinter uns. Vielleicht eine Stunde. Und wer seid Ihr?«
»Sein Bruder«, murmelte Barthomieu. »Ich bin der Bruder von Bernhard von Clairvaux.«
Ein Soldat öffnete ihm die Tür seines Wagens, und Bernhard stieg aus. Er sah blass und mitgenommen aus. Obwohl er erst zweiundfünfzig war, wirkte er bedeutend älter. Die Bürde seines hohen Amtes und sein spartanischer Lebenswandel hatten seine Haut schlaff und fahl werden lassen und ihm Arthritis und Rheuma beschert. Rasch verschaffte er sich einen Überblick über die in dem primitiven Klosterlager herrschenden Bedingungen. Es war eine Pilgerenklave, in der sich Kleriker und Studenten, Männer und Frauen drängten.
Ob ich wohl kurz vor meinem Tod so viel Verehrung erfahren werde?, fragte sich Bernhard, bevor er gebieterisch ausrief: »Wer von euch führt mich zu Abélard?«
Barthomieu kam und blieb vor Bernhard stehen. Die beiden Männer sahen sich kurz in die Augen, bevor Bernhard den Kopf schüttelte und den Blick abwendete.
»Gott zum Gruß, Bernhard«, sagte Barthomieu.
Einen Moment lang war Bernhard wegen dieser vertrauten Anrede verärgert, immerhin war er der Abt von Cîteaux, den päpstliche Gesandte aufsuchten. Er hatte mehrere Päpste persönlich gekannt, und der
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