Die Zeit: auf Gegenkurs
Chefbibliothekarin dieser Bibliothek; ich habe einen Stab von fast ein hundert Angestellten, von denen Ihnen jeder helfen könnte – wenn Sie früher gekommen wären.«
»Man hat mir gesagt, ich soll mich an sie wenden«, flüsterte das Mädchen. »Am Hauptschalter. Ich habe Mr. Appleford verlangt, aber er ist schon fort. Er hat mir schon einmal geholfen.«
»Sind Sie von der Stadtverwaltung von Los Angeles? Von irgendeiner Behörde?«
»Nein. Ich komme vom Vitarium Flasche des Hermes.«
»Ist Mr. Roberts tot?« fragte Mrs. McGuire barsch.
»Ich … ich glaube nicht. Vielleicht sollte ich besser gehen.« Das Mädchen wandte sich ab, zog die Schultern hoch, versteckte ihren Kopf wie ein kranker, verkrüppelter Vogel. »Es tut mir leid …« Ihre Stimme brach ab.
»Einen Moment.« Mavis McGuire winkte sie zurück. »Drehen Sie sich um und sehen Sie mich an. Jemand hat Sie geschickt; Ihr Vitarium hat Sie geschickt. Gesetzlich haben Sie das Recht, die Bibliothek für Nachschlagezwecke zu benutzen. Sie haben ein Recht darauf, hier nach Informationen zu suchen. Kommen Sie mit in mein Büro; folgen Sie mir.« Sie stand auf und führte sie energisch durch zwei Vorzimmer in ihr eigentliches Büro. An ihrem Schreibtisch angekommen, drückte sie einen der vielen Knöpfe an ihrer Sprechanlage und sagte: »Ich wäre dankbar, wenn einer der Löscher, die zur Zeit frei sind, für ein paar Minuten zu mir kommen könnte. Danke.« Dann drehte sie sich um und starrte das Mädchen an. Ich lasse diese Person hier nicht ‘raus, sagte sich Mavis McGuire, bevor ich nicht erfahren habe, warum ihr Vitarium sie hergeschickt hat, um Informationen über Ray Roberts zu beschaffen.
Und wenn ich es nicht aus ihr herausbekommen kann, dann der Löscher.
8. K APITEL
Materie an sich ist
(abgesehen von den Formen, die sie annimmt)
gleichermaßen unsichtbar und sogar undefinierbar.
– Eriugena
In der Werkstatt des Vitariums Flasche des Hermes hörte Dr. Sign angestrengt mit einem Stethoskop die schmale, dunkelhäutige Brust des Anarchen Thomas Peak ab.
»Hören Sie etwas?« fragte Sebastian. Er war innerlich aufgewühlt.
»Bisher noch nichts. Aber in diesem Stadium läßt sich noch nichts genaues sagen; es ist die kritische Periode. Alle Bestandteile haben sich zusammengefügt, befinden sich an ihrem Platz und haben ihre Funktionsfähigkeit wiedergewonnen, aber der …« Sign gestikulierte. »Warten Sie. Vielleicht habe ich’s.« Er warf einen Blick auf die Instrumente, die automatisch Puls, Atmung und Gehirntätigkeit überwachten; alle zeigten gerade, regelmäßige Leuchtlinien an.
»Eine Leiche ist eine Leiche«, sagte Bob Lindy leidenschaftslos; sein Gesichtsausdruck, wie wenig er von all dem hielt. »Ein Toter ist ein Toter, ob es sich dabei nun um den Anarchen handelt oder nicht, und ob ihn nun fünf Minuten oder fünf Jahrhunderte von seiner Wiedergeburt trennen.«
Sebastian las laut von einem Zettel ab: »Sic igitur magni quoque circum moenia mundi. Expugnata dabunt labem putresque ruinar.«
»Woraus ist das?« fragte Dr. Sign.
»Es stand auf dem Gedenkstein. Ich habe es abgeschrieben. Es ist sein Epitaph.« Er deutete auf den Leichnam.
»Abgesehen von der medizinischen Terminologie taugt mein Latein nicht viel«, gestand Dr. Sign, »aber die Begriffe ›verfaulen‹ und ›Zusammenbruch‹ kann ich heraushören. Aber er sieht nicht danach aus, oder?« Er, Lindy und Sebastian betrachteten eine Weile schweigsam den Leichnam. So schmal er auch war, wirkte er dennoch unversehrt und lebensfähig. Was hindert ihn daran, ins Leben zurückzukehren? fragte sich Sebastian.
Pater Faine sagte: »›Alles fließt und nichts verweilt/die Dinge wachsen, Teil zu Teil/fügt sich zu Dingen, die wir benennen/ mählich sie vergehen, bis wir sie nicht mehr kennen.‹«
»Was war das?« fragte ihn Sebastian; er hatte noch nie gereimte Bibelstellen gehört.
»Die Übersetzung des ersten Vierzeilers von Peaks Epitaph. Es handelt sich um ein Gedicht von Titus Lucretius Carus – Lucrez, der De Rerum Natura geschrieben hat. Haben Sie es nicht erkannt, Seb?«
»Nein«, gab er zu.
»Vielleicht«, meinte Lindy bissig, »wird er wiederlebendig, wenn Sie es rückwärts aufsagen; vielleicht ist das der Trick.« Feindselig funkelte er Sebastian an. »Mir gefällt es nicht, eine Leiche ins Leben zurückzuholen ; es ist etwas ganz anderes, als einen Auferstandenen zu hören, der in seinen Sarg eingesperrt unter der Erde liegt und ihn
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