Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Zeit: auf Gegenkurs

Die Zeit: auf Gegenkurs

Titel: Die Zeit: auf Gegenkurs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip K. Dick
Vom Netzwerk:
Mitanzusehen, wie tote organische Materie leben dig wurde … das ist das wahre Wunder, sagte er sich; das größte von allen. Die Auferstehung.
    Die Augen öffneten sich. Der Anarch sah Sebastian an, sein Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig; sein Gesichtsausdruck war friedlich, und Sebastian kam zu der Erkenntnis, daß der Mann in dieser Verfassung gestorben war. Er hat seinem Ruf alle Ehre gemacht, dachte er; der Anarch war wie Sokrates gestorben; ohne Haß, ohne Furcht. Er war beeindruckt. Bisher hatten er und seine Mitarbeiter vom Vitarium Flasche des Hermes diesen Moment verpaßt; die Wiederbelebung geschah, bevor sie mit den Ausgrabungsarbeiten begannen; sie ereignete sich in der trostlosen Leere des Grabes.
    »Vielleicht sagt er etwas Tiefsinniges«, bemerkte Lindy.
    Die Pupillen bewegten sich; der Tote, der wieder zum Leben erwacht war, sah die Anwesenden an. Die Augen wanderten hin und her, aber ihr Ausdruck und der seines Gesichts veränderte sich nicht. Als ob wir eine Sehmaschine wiederbelebt hätten, dachte Sebastian. Ich frage mich, an was er sich erinnert. An mehr als ich? Ich hoffe es, und es wäre naheliegend. Nach seinem Ruf zu urteilen, müßte er wachsamer gewesen sein.
    Die trockenen, rissigen, dunklen Lippen bewegten sich. Der Anarch sagte flüsternd, wispernd wie ein lauer Wind: »Ich habe Gott gesehen. Bezweifeln Sie es?«
    Einen Moment herrschte Stille, dann fragte R. C. Buckley unvermutet: »Wagen Sie es zu bezweifeln?«
    »Ich habe den Allmächtigen gesehen«, sagte der Anarch.
    »Seine Hand«, nickte Buckley, »ruhte auf einem Berg.« Er verstummte, dachte angestrengt nach; die anderen im Zimmer starrten ihn an. Der Anarch beobachtete ihn, wartete darauf, daß er fortfuhr. »Und er blickte auf die Welt«, sagte Buckley schließlich. »Und auf alles, was sie umgibt.«
    »Ich habe ihn deutlicher gesehen als Sie mich jetzt sehen«, flüsterte der Anarch. »Sie dürfen nicht zweifeln.«
    »Was ist das?« fragte Bob Lindy.
    »Ein altes irisches Gedicht«, erklärte Buckley. »Ich bin Ire. Ich glaube, es ist von James Stephens. Wenn ich mich recht erinnere.«
    Mit kräftiger Stimme sagte der Anarch: »Er war nicht zufrieden; er war ganz und gar nicht zufrieden.« Dann schloß er die Augen und ruhte sich aus; Dr. Sign hörte sein Herz ab und überprüfte die Instrumente, die seine Körperfunktionen überwachten. »Er hob die Hand«, sagte der Anarch leise. Als ob er wieder sterben würde. »Ich bin im Weg, sagte ich. Und ich werde niemals von meinem Platz weichen.«
    »Er sagte«, murmelte Buckley, »liebes Kind, ich fürchtete, du wärest tot. Und seine Hand verweilte.«
    »Ja«, nickte der Anarch; sein Gesichtsausdruck war friedlich. »Ich möchte es nicht vergessen. Seine Hand verweilte. Wegen mir.«
    »Waren Sie etwas besonderes?« fragte Lindy.
    »Nein«, antwortete der Anarch. »Ich war etwas Kleines.«
    »Etwas Kleines«, wiederholte Sebastian und nickte. Wie gut er sich daran erinnerte. Schrecklich, unvergleichlich klein, das winzigste Jota im Universum der Dinge. Auch er erinnerte sich jetzt daran; an den mißbilligenden Blick; das Heben der Hand … und dann ihr Verweilen, weil er etwas gesagt hatte. Die Worte Buckleys und des Anarchen hatten den Rest seiner Erinnerung zurückgeholt. Diese furchterregende, zornige erhobene Hand.
    »Er sagte, er fürchtete, ich wäre tot«, wiederholte der Anarch.
    »Nun, das waren Sie auch«, wandte Lindy nüchtern ein. »Deshalb sind Sie auch dort gewesen; nicht wahr?« Er sah Sebastian an und war offenbar nicht beeindruckt. »Was ist mit Ihnen los, R. C?« wandte er sich an Buckley. »Waren Sie dabei? Wieso wissen Sie so gut Bescheid?«
    »Ein Gedicht!« sagte Buckley hitzig. »Ich kenne es aus meiner Kindheit. Herrgott noch mal; vergessen Sie’s.« Er wirkte unsicher. »Es hat mich als Kind tief beeindruckt. Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, aber was er gesagt hat« – er deutete auf den Anarchen –, »hat das meiste davon zurückgeholt.«
    »Genauso war es«, wandte sich Sebastian an den Anarchen. »Ich erinnere mich jetzt.« Und an mehr; er erinnerte sich an sehr viel mehr. Er würde lange brauchen, um seine Erinnerungen zu ordnen und zu verarbeiten. »Können Sie ihn medizinisch ausreichend versorgen?« fragte er Dr. Sign. »Oder müssen wir ihn in ein Krankenhaus bringen?«
    »Wir können es versuchen«, sagte Dr. Sign unverbindlich. Er überprüfte wieder die Instrumente, maß den Puls; insbesondere der Puls schien ihm

Weitere Kostenlose Bücher