Die Zeit der Feuerblüten: Roman (German Edition)
die schlechte Verarbeitung der Balken und Planken auf dem Zwischendeck zu lamentieren.
Ida hörte nicht mehr hin. Sie kämpfte nun auch die Scham darüber nieder, dass ihre Familie im Mittelpunkt eines Aufstands stand. In dem Wissen, dass Karl Jensch an Bord war, war es ihr plötzlich egal, was die anderen Auswanderer, die sich demütig in ihr Schicksal fügten, jetzt über die Langes und die Brandmanns dachten. Idas Herz schlug schneller. Was für ein Segen für Karl, in Nelson neu anfangen zu dürfen! Sie wusste nicht, wie es in Neuseeland sein würde, aber von Amerika hieß es, dort könne jeder sein Glück machen, auch ein Tagelöhner und Habenichts.
Und was sie selbst anging … Sie würde zurechtkommen, es hatten schon andere Leute die Überfahrt auf dem Zwischendeck überlebt. Unvermittelt empfand Ida so etwas wie Freude. Und verbot sich energisch den tröstlichen Gedanken, jetzt nicht mehr allein zu sein.
Den Zwischendeckpassagieren war nicht erlaubt, beim Ablegen der Sankt Pauli an Deck zu gehen, um einen letzten Blick auf die alte Heimat zu werfen. Das Schiff, so argumentierte Kapitän Schacht, sei dafür einfach zu klein, die Matrosen brauchten den Platz, um mit den Segeln zu hantieren. Weit über hundert herumstehende und womöglich weinende und winkende Menschen würden da nur stören. Murren darüber wurde allerdings kaum laut. Die Auswanderer kamen fast alle aus dem ländlichen Mecklenburg und interessierten sich weder für einen letzten Blick auf Hamburg, noch hatten sie Angehörige, die sie zum Pier begleitet hatten. So wurden denn auch nur wenige Tränen vergossen, als sich die Sankt Pauli in Fahrt setzte.
Jakob Lange versammelte die Mitglieder seiner Gemeinde auf dem Korridor der Unterkünfte zu einem kurzen Gebet, in das zu seiner Freude auch die anderen Auswanderer einfielen. Sie alle waren Altlutheraner, was gleich Gemeinsamkeiten schuf, und auch sie reisten in Gruppen. Lediglich zwei Familien aus der Gegend um Gustrow hatten sich unabhängig von ihrer Gemeinde zur Auswanderung entschlossen. Bis zur Ankunft im neuen Land, da war Lange zuversichtlich, würden sie sich alle zu einer Gemeinde zusammengeschlossen haben. Nur die allein reisenden Männer und Frauen bildeten Ausnahmen und wurden entsprechend misstrauisch beäugt. Hannes und Jost, Karls Quartiergenossen, stammten als Einzige nicht aus Mecklenburg, sondern waren Hamburger. Karl fand nicht gleich heraus, ob sie Altlutheraner oder Reformierte waren, aber sie gaben sich überaus gläubig und beteten gleich inbrünstig mit. Hannes erzählte, Beit habe sie in einer christlichen Mission für Seeleute angeworben, in der sie aus Gründen, die er nicht näher angab, gestrandet waren. Der Anstoß dazu war wohl von Beit ausgegangen, laut Hannes’ weitschweifiger Rede sei er in dem Asyl aufgetaucht und habe die Passagen angeboten »wie ein leibhaftiger Engel«. Hannes bekreuzigte sich, während er davon erzählte.
Karl wunderte sich. Sollte er wirklich der einzige Tagelöhner und Habenichts in ganz Mecklenburg gewesen sein, der Beit auf eine Mitreisemöglichkeit angesprochen hatte? Hatte es in keinem der Dörfer jüngere Bauern- oder Häuslersöhne gegeben, die vielleicht auch mit dem Segen der Gemeinde kostenlos hätten reisen können? Karl hätte das sehr viel einfacher gefunden, als Siedler in Obdachlosenasylen anzuwerben.
Die erste Nacht auf See verlief recht ruhig, aber noch segelte das Schiff ja durch die Elbmündung. Erst am nächsten Tag erreichte die Sankt Pauli offene See. Beit nutzte das ruhige Wetter, um die Passagiere mit den alltäglichen Abläufen an Bord vertraut zu machen, wobei sich schnell herausstellte, dass er vorhatte, ein strenges Regiment zu führen. Gleich am ersten Morgen versammelte er sämtliche Männer an Deck und verteilte Ämter. Lange und Brandmann wurden mit dem Auswiegen der Essensrationen betraut, andere mit der Verteilung der Mahlzeiten und wieder andere mit Aufsichts- und Ordnungsfunktionen.
»Sie haben dafür zu sorgen, dass die Schiffsordnung streng eingehalten wird!«, verkündete Beit.
Mit volltönender Stimme verlas er einen Katalog von Geldstrafen, mit denen Verstöße dagegen geahndet wurden. Unter anderem war es den Zwischendeckpassagieren verboten, sich an Deck aufzuhalten – lediglich eine Stunde am Tag und zum Gottesdienst am Sonntag dürften sie frische Luft schnappen.
»Wie im Gefängnis!«, empörte sich Ottfried, wurde dann aber mit dem überaus wichtigen Amt eines Wachmanns im Bereich
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