Die Zeit der Feuerblüten: Roman (German Edition)
ab. »Das Schiff geht nicht unter. Auf dem Atlantik ist es immer stürmisch, das schreibt schon Kapitän Cook. Und mir wurde gesagt, die Sankt Pauli sei robust. Das Geschaukel ist nur eine Frage von ein paar Stunden, bald ist alles wieder gut.«
Vor den Latrinen stauten sich die Menschen. Die Ordner versuchten, sie zu kontrollieren, aber sie drängten verzweifelt auf die Abtritte, und immer wieder schaffte es auch jemand nicht und übergab sich gleich davor.
»Es sind viel zu wenige.« Karl seufzte und versuchte, einen Durchgang für Ida zu schaffen. »Drei Abtritte für mehr als hundertdreißig Menschen …«
Ida schob eine ihrer Locken zurück unter die Haube. Sie sah derangiert aus, wie auch die anderen, sonst so adretten Frauen der Häusler. Bei diesem Sturm hatten sie sichtlich anderes zu tun gehabt, als ihre Hauben ordentlich aufzusetzen und ihre Schürzen zu glätten.
»Beit hat meinem Vater versichert, es müsste nur eine auf fünfzig Passagiere zur Verfügung gestellt werden …«
Karl grinste. »Na, da haben wir ja noch Glück«, bemerkte er sarkastisch. »Du bist nicht seekrank?«
Ida schüttelte den Kopf. »Nein. Aber alle anderen. Elsbeth meint, sie müsste sterben … Wird das die ganze Reise hindurch so gehen, Karl?«
Sie taumelte, als das Schiff wieder von einer Windböe erfasst wurde. Karl fing sie auf – und hielt sie einen Herzschlag lang in seinen Armen.
»Entschuldige.« Ida befreite sich sofort und wurde glühend rot, als hätte Gott ihr eine Warnung zugeraunt. »Ich muss zurück … wahrscheinlich hat sich inzwischen schon der Nächste erbrochen.«
Die junge Frau hatte ihren Eimer endlich leeren können und tastete sich nun durch die dunklen Gänge zurück zu ihrem Verschlag. Karl folgte ihr, bereit, sie erneut aufzufangen, wenn sie stürzte.
»Ich bin hier, wenn du mich brauchst«, sagte er leise, als sie hinter der behelfsmäßigen Tür verschwand. »Wenn ich … wenn ich etwas helfen kann …«
Ida verneinte tapfer, aber sehr lange hielt sie die Weigerung nicht durch. Die Zustände im Quartier ihrer Familie wuchsen ihr einfach über den Kopf – die Kinder weinten und erbrachen sich alle paar Minuten. Anton war keine Hilfe, er lag selbst wimmernd in seiner Koje – ob vor Schmerz oder Angst, konnte keiner sagen. Selbst der Vater schaffte es nicht mehr, die Koje zu verlassen, um sich auf den Latrinen zu übergeben. Wenn er sich nicht gerade erbrach, betete er mit schwacher Stimme. Ida schwankte also gleich mit dem nächsten stinkenden Eimer auf den Gang, und diesmal protestierte sie nicht, als Karl ihn ihr abnahm.
Letztendlich verbrachten sie beide eine höllische Nacht. Karl übernahm wortlos den mit Erbrochenem und bald auch mit Exkrementen gefüllten Eimer, der kleine Franz hatte sich vor Angst in die Hose gemacht. Karl trieb einen weiteren Eimer auf und brachte ihn mit Wasser gefüllt zurück, damit Ida den Boden aufwischen konnte. Und dann kam es zu dem von Beit vorhergesagten Wassereinbruch. Die Wellen mussten extrem hoch sein, um das Deck zu überspülen, und das Wasser drang durch die nur ungenügend schließenden Luken ins Zwischendeck. Karl bemühte sich, die Wassermassen schon im Gang vor Idas Kabine zurückzudrängen – die Mannschaft versorgte die Zwischendeckpassagiere dazu mit Putzlumpen und Schöpfgefäßen. Aber bald schon stand die mit Schmutz und Erbrochenem vermischte Brühe fußhoch.
Elsbeth schrie hysterisch, als das Wasser schließlich in ihre Kabine eindrang, und Karl hörte, dass Ida versuchte, sie zu beschwichtigen. »Habt ihr es nicht neulich gehört? Als Vater und Herr Brandmann mit Herrn Beit gesprochen haben? Herr Beit hat gesagt, das sei ganz normal …«
Karl hatte das niemand mitgeteilt, auch die anderen Passagiere, die nicht zufällig zugegen gewesen waren, als Beit und Lange gestritten hatten, waren ahnungslos. Entsprechend panisch gestalteten sich ihre Reaktionen auf die Überschwemmung. Wieder wurde geschrien und laut gebetet. Vor den Ausgängen stauten sich hysterische Passagiere, die unbedingt an Deck wollten, ihre Angst verstärkte sich noch, als sie die Luken versperrt fanden. Der Albtraum schien niemals zu enden.
Doch dann hörte der Sturm plötzlich auf. Der Wind legte sich. Das Schiff lag wieder ruhiger im Wasser. Karl sah Ida völlig entkräftet aus ihrem Quartier kommen.
»Glaubst du … glaubst du, es ist vorbei?«, fragte sie und rieb sich die Augen.
Karl zuckte die Schultern. Sie schmerzten, wie auch sein Rücken, ja
Weitere Kostenlose Bücher