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Die Zeit der Verachtung

Die Zeit der Verachtung

Titel: Die Zeit der Verachtung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Sapkowski
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doch so einen noch nicht.
     
    Der Wind wehte vom Land zur See hin. Wolken wogten auf den Mond zu, der überm Wald hing. Die Straße nach Hirundum versank in Dunkelheit. Galopp wurde zu gefährlich. Ciri zügelte das Pferd, ließ es traben. Im Schritt zu reiten fiel ihr überhaupt nicht ein. Sie hatte es eilig.
    Aus der Ferne war das Grollen eines heranziehenden Gewitters zu hören, der Horizont wurde immer wieder von Blitzen erhellt, die die gezackte Silhouette der Baumwipfel aus dem Dunkel rissen.
    Sie hielt das Pferd an. Sie war an einer Wegscheide angelangt – die Straße gabelte sich, und beide Zweige sahen gleich aus.
    Warum hat Fabio nichts von der Wegscheide gesagt? Ach, was soll’s, ich verirre mich ja niemals, ich weiß ja immer, wohin ich gehen oder reiten muss  ...
    Warum also weiß ich jetzt nicht, welchen Weg ich nehmen soll?
    Eine riesige Gestalt glitt lautlos über ihren Kopf hinweg. Ciri fühlte, wie ihr das Herz bis zum Hals schlug. Das Pferd wieherte, bäumte sich auf und galoppierte los, wobei es den Weg nach rechts nahm. Gleich drauf hielt sie es an.
    »Das war nur eine gewöhnliche Eule.« Sie atmete auf, versuchte sich und das Pferd zu beruhigen. »Ein gewöhnlicher Vogel  ... Da gibt es nichts zu fürchten  ...«
    Der Wind wurde stärker, die dunklen Wolken verdeckten den Mond vollends. Doch vor ihr, wo es im Verlauf der Straße eine kleine Lücke im Wald gab, war es hell. Sie ritt schneller, Sand stiebte unter den Hufen.
    Bald schon musste sie anhalten. Vor ihr lagen ein Abhang und das Meer, aus dem der bekannte schwarze Kegel einer Insel emporwuchs. Von der Stelle aus, wo sie sich befand, waren weder Garstang, Loxia noch Aretusa zu sehen. Sie sah nur den einsamen, schlanken Turm, der Thanedd krönte.
    Tor Lara.
    Es donnerte, und einen Augenblick später verband die blendend helle Spur eines Blitzes den bewölkten Himmel mit der Turmspitze. Der Tor Lara starrte sie aus den schwarzen Pupillen der Fenster an, es schien, als sei im Inneren des Turmes für eine Sekunde ein Feuer entflammt.
    Tor Lara  ... Der Möwenturm  ... Warum macht mir dieser Name so Angst?
    Ein Windstoß riss an den Bäumen, die Zweige begannen zu rauschen. Ciri kniff die Lider zusammen, Staub und kleine Blätter schlugen ihr gegen die Wange. Sie wendete das schnaubende und seitlich ausbrechende Pferd. Sie hatte die Orientierung wiedergefunden. Die Insel Thanedd wies nach Norden; sie aber musste in westlicher Richtung reiten. Der sandige Weg lag als deutliches Band in der Finsternis. Sie ging zum Galopp über.
    Abermals donnerte es, im Lichtschein des Blitzes erblickte Ciri plötzlich Reiter. Dunkle, undeutliche, sich rasch bewegende Silhouetten zu beiden Seiten der Straße. Sie hörte einen Ruf: »Gar’ean!«
    Ohne zu überlegen, hielt sie das Pferd an, wendete und galoppierte los. Hinter ihr Schreie, Pfiffe, Wiehern, Hufgetrappel.
    »Gar’ean! Dh’oine!«
    Galopp, Hufgetrappel, die vorbeischießende Luft. Dunkelheit, in der die weißen Stämme von Birken am Straßenrand aufblitzen. Donnern. Ein Blitz, in seinem Licht versuchen zwei Reiter, ihr den Weg abzuschneiden. Einer streckt die Hand aus, will die Zügel packen. An seiner Mütze ist ein Eichhörnchenschwanz befestigt. Ciri stößt dem Pferd die Fersen in die Flanken, duckt sich auf seinen Hals, die Geschwindigkeit trägt sie vorbei. Hinter ihr Schreie, Pfiffe, Hufgetrappel. Ein Blitz.
    »Spar’le, Yaevinn!«
    Karriere, Karriere! Schneller, Pferd! Donner. Blitz. Eine Wegscheide. Nach links! Ich verirre mich nie! Wieder eine Abzweigung. Nach rechts! Karriere, Pferd! Schneller, schneller!
    Der Weg geht aufwärts, unter den Hufen ist Sand, obwohl sie das Pferd antreibt, wird es langsamer  ...
    Auf dem Gipfel der Anhöhe blickte sie zurück. Wieder erhellte ein Blitz den Weg. Er war völlig leer. Sie lauschte, hörte aber nur den Wind im Laub rauschen. Es donnerte.
    Hier ist niemand. Die Eichhörnchen  ... Das ist nur eine Erinnerung an Kaedwen. Die Rose von Shaerrawedd  ... Das alles ist mir nur so vorgekommen. Hier gibt es keine lebendige Seele, niemand verfolgt mich  ...
    Ein Windstoß traf sie. Der Wind weht vom Land her, dachte sie, und ich fühle ihn auf der rechten Wange  ...
    Ich habe mich verirrt.
    Ein Blitz. In seinem Licht funkelt die Meeresoberfläche auf, vor ihrem Hintergrund der schwarze Kegel der Insel Thanedd. Und der Tor Lara. Der Möwenturm. Der Turm, der sie anzieht wie ein Magnet  ... Doch ich will nicht zu diesem Turm.

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