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Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)

Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)

Titel: Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mandy Kopp
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traf mich härter, als ich mir das je hätte vorstellen können. Sie hatten mich so weit gebracht, dass ich mich vor Angst vollpinkelte. Das Gejohle der Männer höre ich heute noch.
    Auch der letzte Satz, den dieser Sadist zu mir sagte, ist mir so lebhaft in Erinnerung, als hätte er ihn eben erst gesagt: »Kein Wort zu den Bullen. An dem Tag, an dem du mich wiedererkennst, bist du tot!«
    Dieser Satz prägte die letzten zwanzig Jahre meines Lebens. Die Angst, einfach erschossen zu werden. Mitten im Ort, auf dem Parkplatz des Supermarkts. Oder nachts im Bett. Zwanzig Jahre Angst, dass diese Arschlöcher ihre Drohung wahr machen. Bis heute schützt uns die sächsische Regierung nicht ernsthaft. Selbst jetzt nicht, wo so vieles bekannt ist aus dem »Sachsensumpf«, die Fehler, die Vertuschungen, die Verstrickungen. Immer noch sind wir die Zielscheibe, immer noch sind diese Schweine nicht zur Rechenschaft gezogen. Stattdessen sitzen wir auf der Anklagebank – »wir«, das sind die Frauen, die sich »freiwillig prostituiert« haben. Die man ohne Probleme im Gerichtssaal mit »Prostituierte« anreden konnte. Minderjährige waren wir! Und keine erwachsenen Frauen, die sich aus welchen Gründen auch immer in die Hände eines Zuhälters begeben haben. Selbst sonst eher kritische Medien haben diesen Begriff einfach verwendet – und uns damit ein zweites Mal benutzt. Von »ehemaligen Prostituierten« und von »fürstlichen Bezahlungen« ist in der Presse die Rede. Von »blühender Phantasie«, »blindem Jagdeifer« und jeder Menge »heißer Luft« spricht selbst Ministerpräsident Georg Milbradt. Opfer haben keine Lobby.
    »Fräulein Schmidtmann, war es nicht so, dass Sie in der Zeit, in der Sie im Jasmin waren, geschlagen werden wollten?«, fragte mich Kuglers Anwältin während des Prozesses gegen den Zuhälter.
    Klar. Aber sicher wollte ich das. Die traurige Wahrheit ist, dass ich tatsächlich irgendwann lieber geschlagen als ständig vergewaltigt werden wollte. Die Schläge haben meiner Psyche den Weg geebnet, nichts mehr außer Taubheit zu spüren. Weggedroschen. Eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera. Aber keine, die Freiwilligkeit impliziert. Ob sich das die Herren im feinen Zwirn vorstellen können? Eher nicht. Sonst hätten sie nicht bei Vierzehnjährigen von »Prostituierten« gesprochen, als sei es ein logischer Schritt von einer Ausreißerin zu einer, die die Beine breit macht – noch dazu für eine »fürstliche Entlohnung«. Was will so eine denn noch vom Leben, ist doch fein! Das bisschen Gewalt, tja, das gehört dazu, wenn man sich sehenden Auges in dieses Milieu begibt.
    Ich möchte diese »Entscheidungsträger« mal sehen, wenn sie mit vollgepisster Hose irgendwo am Boden liegen, in einer Pfütze, die langsam kalt wird, ein Klicken an der Schläfe, danach Stille, diese unerträgliche Stille. Wenn sie dann hören, wie sich die Schritte entfernen und nur noch Dunkelheit und Leere ist. Wenn im Mund nur noch der Geschmack von Blut und Kotze ist, der Körper grün und blau getreten. Ich lebe mit diesem Gefühl. Und in den Momenten, in denen ich glaube, nicht mehr damit leben zu können, erinnere ich mich daran, dass ich genau deswegen heute noch lebe. Ich lebe, um davon zu berichten. Es gibt weiß Gott schönere Gründe. Aber verdammt noch mal, ich lebe.
    *
    In den vergangenen Jahren habe ich mir oft die Frage gestellt: »Warum ich?« Bis ich irgendwann selbst das nicht einmal mehr zu fragen wagte. Die Bilder sind heute noch genauso intensiv und grausam wie damals. Wenn ich es gar nicht mehr aushalte, setze ich mich ans Klavier und spiele. Ich spiele um mein Leben, nur für mich. Oder ich male, bis ich den Pinsel nicht mehr halten kann. Das Gefühl in meiner schmerzenden Hand ist oft das Einzige, das ich wahrnehmen kann. Ansonsten bin ich nur noch leer.
    Ich weiß nicht, ob ich durch das Aufschreiben meiner Erlebnisse und Gedanken das Trauma verarbeiten kann. Ich klammere mich an die Hoffnung, dass ich mit dem letzten Satz dieses Kapitel meines Lebens auch zuschlagen kann, wie ein Buch, das man ausgelesen hat. Ich glaube nicht wirklich daran. Trotzdem will ich leben, lachen und genügend Licht ausstrahlen, um die alten Schatten auszuleuchten und zu verbannen.
    Ich habe vier Jahre gebraucht, bis ich den Mut hatte, mich überhaupt an den Computer zu setzen. Eine Zeile, zwei vielleicht, dann wieder Wochen und Monate, in denen ich Angst vor dem weißen Blatt hatte. Angst vor den Erinnerungen, die dieses

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