Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
weiße Blatt beschmutzen würden. Dann wieder gewann die Kämpferin in mir die Oberhand. Die Mandy, die sagte: »Du musst dir dein Leben zurückerobern, darfst dich nicht verstecken.« An manchen Tagen sind es verzweifelte Versuche, zum Scheitern verurteilt. Dann will ich mich nur noch verstecken, verschwinden, mich so lange kaputtmachen, bis nichts mehr von mir übrig ist. Dann gibt es wieder Tage, an denen ich glaube, dass meine Kraft ausreicht. Nicht nur für mich, sondern auch für andere Opfer, deren Stimme nicht gehört wird. Die in den Mühlen der Justiz feststecken, ihrer Würde beraubt, gedemütigt und benutzt. An diesen Tagen habe ich das Gefühl, dass mich jede Niederlage nur noch stärker macht. Dass ich nicht länger schweigen kann, dass mich niemand je wieder einschüchtern wird, dass ich aufgefangen werde von Menschen, die mir nahestehen. Dann betrachte ich das Opfer in mir aus weiter Ferne, als einen Teil, der mich nicht ausmacht, der mir die Sehnsucht nach Leben nicht rauben wird. Das alte Muster: abspalten, um zu überleben.
Ein trügerischer Schein. Jedes Mal, wenn ich denke, dass ich endlich den Kopf über Wasser halten kann, mich freigeschwommen habe, holt mich die Vergangenheit ein. Unbarmherzig und kalt. Manchmal ausgelöst durch mein Inneres, manchmal durch äußere Umstände. Der Sachsensumpf ist auch zwanzig Jahre später noch nicht trockengelegt, die Prozesse gehen weiter. Das, was ich erlebt habe, hat bei mir zu einer schweren Form der posttraumatischen Belastungsstörung geführt, die mein Leben massiv beeinträchtigt. Eine Burg mit dicken Mauern, hinter die ich mich zurückziehen und ausklinken kann, in der ich mich sicher fühle, aber auch selbst gefangen halte. Die starke Mandy konkurriert mit der schwachen, und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Ich kann meine Gefühle nicht sortieren, nicht aktiv steuern, wann ich wie sein möchte. Manchmal wünsche ich mir, ich hätte eine Fernbedienung, mit der ich das für die Außenwelt »angemessene« Programm auf Knopfdruck anknipsen könnte. Funktioniert leider nicht. Von einer Sekunde auf die nächste überfällt mich völlige Panik, ich bin orientierungslos, selbst in den eigenen vier Wänden.
Dann wieder habe ich Hoffnung, dass ich das irgendwie in den Griff kriegen werde. Den letzten heftigen Flashback hatte ich vor einigen Monaten, vorher kamen sie mehrmals pro Woche. Ein großer Fortschritt. Liegt es daran, dass ich versuche, das alles zu Papier zu bringen? Ich will schreiben, es ist wie ein innerer Zwang. Wenngleich ich Worte finden will für etwas, für das es keine Worte gibt. Es ist quälend, zurückzugehen an die Stellen, an denen es weh tut. An die Stellen, die man eigentlich abgetötet hat, damit sie nicht mehr weh tun. Ich denke manchmal, das ist das Schwerste überhaupt. Sich einzugestehen, dass man die Realität zwar eine Zeitlang verdrängen kann, sie aber trotzdem noch da ist. Ich habe jahrelang so getan, als wäre mir das alles nicht passiert. Ich wollte es nicht akzeptieren, dieser Dreck sollte nicht zu mir gehören, das war nicht ich. Als ich das irgendwann konnte, war der nächste Riesenschritt, mich davon zu überzeugen, dass ich mehr war als nur das Mädchen aus dem Jasmin. Es gelang mir lange nicht. Die Vergangenheit stülpte sich wie ein dicker Sack über mich, vorher war nichts, hinterher würde auch nichts kommen. Das Trauma überlagert alles, wie ein zäher, lähmender Schleim.
Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich mich nie aus diesem Morast werde befreien können. Ich weiß, dass es Menschen gibt, die mir dabei helfen wollen, die mir ihre Hand reichen. Aber sofort ist da wieder diese Angst. Kann ich vertrauen? Kann ich anderen vertrauen, wenn ich mir selbst nicht vertraue? Können mich andere lieben, wenn ich mich selbst nicht lieben kann? Können sie mein wahres Ich erkennen, wo ich doch alles dafür tue, es hinter einer Maske zu verbergen?
Wenn ich dann einmal die Hand ergreife, höre ich sofort wieder diese Stimme, die mir sagt: Du bist es nicht wert, du hast es nicht verdient, geliebt zu werden, glücklich zu sein . Dann suche ich sofort nach Fehlern. War da nicht ein Misston? Eine leise Kritik? Husch, husch, zurück ins Schneckenhaus. Die eigene Unsicherheit wird in meiner Vorstellung zu einer Waffe in der Hand meines Gegenübers. Ich wage es nicht, nein zu sagen, eine klare Position zu beziehen, weil ich Angst habe vor den Konsequenzen. Ein Nein, ein vermeintliches Fehlverhalten, führt zu
Weitere Kostenlose Bücher