Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
Ablehnung, Bestrafung und Schmerz. Ich will diesen Schmerz nicht mehr spüren, will es allen recht machen. Wenn ich mich auf andere konzentriere, kann ich mich selbst vergessen. Ein Opfer macht sich so selbst immer wieder von neuem zum Opfer, wenn es nicht lernt, sich wahr- und ernst zu nehmen. Ich weiß nicht, ob mir das jemals ganz gelingen wird. An guten Tagen vertraue ich darauf, dass ich es schaffen werde. An schlechten Tagen fühle ich mich betrogen. Vom Leben. Um mein Leben. Benutzt und weggeworfen, wie eine alte Puppe. Misshandelte Kinderseele, kaputte Erwachsenenseele.
Schweinemastanlage
Mächtig dem gebrochenen Kind gezeigt
Wie schnell gelbe Kacheln werden rot
Es wäre ja besser, wenn es schweigt
Sonst hängt’s ausgeblutet, tot
Das Auto hält vor einem alten Gebäude. Eine Fabrikhalle? Ein Stallgebäude einer ehemaligen LPG ? Ich blicke nach unten, habe Angst zu stolpern. Durch die Augenbinde sehe ich, dass der Weg von Gestrüpp gesäumt ist, zwischen den Betonplatten am Boden wuchert Unkraut. Die beiden Männer zerren mich an den Oberarmen zu einer großen Stahltür. Sie quietscht beim Öffnen. Als sie hinter uns ins Schloss fällt, hallt es lange nach. Ein modrig-feuchter Geruch steigt mir in die Nase. Ich höre Stimmen, ein Mann brüllt herum.
Sie nehmen mir die Augenbinde ab. Es dauert, bis ich mich an das diffuse Licht gewöhne.
Ich sehe Stahlschienen an der Decke, die quer durch die Halle führen. Am anderen Ende dringt durch ein paar Glasbausteine etwas Licht herein, ein heller Strahl, durch den Staubpartikel tanzen. Im Betonboden befindet sich eine lange Rille, die in einen Ausguss mündet. Auf der linken Seite ist ein gemauerter Raum mit einer Stahltür, der stabförmige Griff ragt nach oben. Eine Kühlkammer, wie man sie aus größeren Metzgereien kennt.
»Zieh dich aus.«
Ich bin unfähig, mich zu wehren, und lege meine Kleidung Stück für Stück auf den Boden.
»Und jetzt sieh genau hin!«
Einer der Männer befestigt ein Seil mit einem Haken am Ende an einer der Schienen. Dann zerren sie eine Frau herein, sie ist an Händen und Füßen gefesselt.
Der Körper der Frau ist mit blauen Flecken und Striemen übersät. Sie hängen ihn an den Füßen auf, ziehen ihn nach oben. Blut tropft hinunter. Plitsch. Plitsch. Ihre langen schwarzen Haare schleifen über den Boden. Wie ein Wischmopp, während die Männer den Körper von rechts nach links schlagen. Sie rührt sich nicht mehr, kein Laut dringt aus ihrer Kehle, wie ein Sack schwingt sie am Haken hin und her.
Was ich bei diesem Anblick fühlte? Ich weiß es nicht mehr. Vielleicht habe ich mich gefragt, was sie getan und ob sie diese Art der Bestrafung verdient hat. Vielleicht habe ich ihr gewünscht, dass sie bewusstlos bleibt. Vielleicht habe ich Mitleid empfunden, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht habe ich mich nur gefragt, was sie mir damit sagen wollen. Eine Demonstration, die mir zeigen sollte, was andere Zuhälter mit ihren Mädchen und Frauen machten, wenn sie nicht spurten. Da seht ihr mal, wie gut ihr’s bei mir habt!
Ich sehe die Frau, und ich sehe sie nicht. Ich sehe durch sie hindurch, durch dieses starre Gesicht, der Lippenstift verschmiert zu einer Fratze. Sie ist nicht mehr da. Sie spürt nichts mehr. Niemand spürt mehr irgendetwas. Eine Larve, ein Kokon, gleich fliegt sie weg und lässt alles hinter sich. Ein schöner Schmetterling, davongetragen hoch über mir, hoch über allem. Flieg, flieg, Christl, flieg.
Erst in diesem Moment fällt mir auf, dass ich diese Frau kenne. Kugler hatte sie einmal im Schlepptau, als er mit Kunden ins Jasmin kam. Wir hatten einen schnellen Kaffee zusammen getrunken. Ich mochte sie, sie hätte meine Mutter sein können.
Ich weiß nicht, wie lange ich auf den leblosen Körper starrte. Meine Augen brannten. Der Schmerz dieser Frau legte sich über meinen eigenen. Was kann ein Mensch aushalten? Ich konnte den Blick nicht abwenden und hielt doch das, was ich sah, kaum aus.
Ich war froh, als einer der Männer mich packte und wegzog.
O. k., ich habe meine Lektion gelernt. Kann ich jetzt nach Hause?
Aber die Lektion war noch nicht zu Ende.
Der Mann öffnet die Tür zum Kühlhaus. Ich kann sein Gesicht nicht sehen. An der Hand trägt er einen breiten goldenen Ring mit einer Gravur und einem kleinen Stein. Ich kann nur den Anfangsbuchstaben erkennen, ein verschnörkeltes »G«.
Mit Wucht werde ich nach vorne gestoßen, ich falle, schlage mir den Ellenbogen auf. Blut rinnt mir über den
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