Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
ist inzwischen passiert, viel zu viel begleitet uns, als dass wir uns »einfach so« begegnen könnten. Vielleicht können wir es irgendwann einmal. Vielleicht können wir irgendwann auch einmal drüber reden, was die Zeit im Jasmin mit uns gemacht hat. Mit unseren Seelen. Einige Monate vorher, bei einem Vorbereitungstreffen für den Prozess, haben wir uns das erste Mal umarmt und gemeinsam geweint. Worte für das, was wir empfanden, hatten wir nicht.
Jetzt blickte sie mich lange an und sagte völlig unvermittelt: »Ich war in der Halle. Damals, bei der Sache mit Christl. Ich kann mir das nicht verzeihen, dass ich nichts getan habe.«
Ich packte diesen Satz nicht, er zog mir von einem Augenblick zum nächsten den Boden unter den Füßen weg. Ein Abgrund. Ich empfand völlige Verzweiflung und Wut zugleich. Wut darüber, dass sie diesen Satz ausgesprochen hatte. In diesem Moment wurde wahr, was bis dahin nicht wahr gewesen war. Die Bilder, die ich so gerne unter der Rubrik »Phantasie« abgelegt hätte. Was nicht sein kann, das darf nicht sein. Nichts passiert, alles gut. Das ist nie geschehen.
Auch für Trixi änderte sich mit diesem Satz etwas. Wir hatten es beide ausgeblendet, sonst hätten wir es nicht ertragen. Wir wollten doch nur, dass Kugler uns liebhatte, wollten gut sein, unseren Job richtig machen, damit er stolz auf uns ist. Die Christl? Scheiße noch mal, musste richtig Mist gebaut haben.
Wie krank ist das eigentlich? Dass man die Panik wegdrängt, die Vorstellung, als Nächste am Haken zu hängen? Ich habe sie da hängen und hinterher auf dem Boden liegen sehen. Ich habe ihre kalte, nasse Haut im Dunkeln gespürt und es sofort ausgeblendet, kaum, dass ich wieder im Jasmin war. Schwein gehabt, Lektion gelernt. Musste halt hart durchgreifen, der Kugler, wenn die Zicke es nicht anders begreift. Ist schon okay so. Alles weg. Wie weggefegt. Als hätten die Stunden davor nie stattgefunden. Und Trixi? Was wusste ich schon von deren Träumen? Von ihrer Vergangenheit, ihrer Zukunft? Nichts. Der Augenblick zählte. Der Alltag. Und hinterher essen wir alle gemeinsam eine Tütensuppe. Gemüsebrühe, mit kleinen Buchstabennudeln drin. Das wärmt und ist der kleinste gemeinsame Nenner. Die kriegt man auch runter, wenn sonst nichts mehr geht. Wenn man sich krank fühlt, elend und allein. Wenn ich mir heute eine Tütensuppe koche, habe ich kein unangenehmes Gefühl dabei. Eher eines der Verbundenheit, das nie verschwunden ist. Eines, das mir in schwierigen Momenten Sicherheit gibt. Seit zwanzig Jahren habe ich immer einige Tüten auf Vorrat im Schrank.
Der Tag der Befreiung
Befreit und doch in mir schweigend gefangen
Die Seele in mir in tausend Stücke gefetzt
Haben jede Gerechtigkeit verwehrt, zerbrochen
Die Opfer als Täter durch die Straßen gehetzt
Schon längst hatte ich mich damit abgefunden, dass mein zukünftiges Leben im Jasmin stattfinden würde. Es gab vorher nichts, es würde hinterher nichts geben. Das Erlebnis in der Wohnung, der Vorfall in der Schweinemastanlage, der misslungene Fluchtversuch – irgendwann hatte ich keine Hoffnung mehr. »Ihr könnt euch bei der da bedanken«, hatte Kugler den anderen gesagt. »Keine von euch geht mehr raus, nicht einmal, um den Müll runterzubringen. Dass das hier klar ist!« Ich hatte Scheiße gebaut, war mal wieder schuld. Die dämliche Kuh, die die anderen in Schwierigkeiten brachte.
Das Schlimmste war, dass ich irgendwann noch nicht einmal mehr daran dachte zu fliehen. Es war so, wie es eben war, alles andere war Phantasterei. Ich weinte nachts nicht mehr, dachte nicht mehr an meine Mutter, nicht mehr an meinen Vater, ich dachte an überhaupt nichts mehr. Ich stand morgens auf, trank einen Kaffee, zog mich an oder wieder aus, ganz wie die Kunden es wollten. Ich schob die Falttür hinter mir zu, so wie ich früher das Pausenbrot in den Ranzen gesteckt hatte, ein routinierter Handgriff, mehr nicht. Ob die Salami mir schmeckte oder nicht, was spielte das für eine Rolle? Ich fühlte nichts mehr, versuchte, mich an die Regeln zu halten und mich irgendwie einzurichten. Die Zicke war tot, hatte zu oft eine aufs Maul bekommen. Sie funktionierte, der Fächer über dem Bett war ausgezählt, die Schafe hüpften nicht mehr über den Zaun. Fell abgezogen, sollen sie doch drauf rumtrampeln, merkt man ja nicht mehr. Hin und wieder ausgeklopft, kräftig, damit der Dreck rausgeht, und dann wieder schön hingelegt. Bereit für den nächsten Kunden, damit er’s schön warm und
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