Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
Zug nach Leipzig fahren sollten, wo uns direkt auf dem Bahnsteig eine Polizeieskorte in Empfang nehmen sollte. Selbst das Abteil und die Sitzplätze waren vorher genau festgelegt worden.
Die Fahrt war für mich ein Höllentrip.
Die Beamten versuchten, mir meine Angst zu nehmen. Die Verhandlung würde ohne die Anwesenheit der Täter stattfinden, ich würde Kugler nicht gegenüberstehen, niemand würde mich beeinflussen wollen, alles würde gut werden. Auch Wolfgang redete unablässig beruhigend auf mich ein. »Schatz, nur noch ein letzter Schritt, dann hast du alles hinter dir. Und diesen Schritt schaffst du, ich bin bei dir.« Ich sah ihn unsicher und mit verheulten Augen an. »Und wenn gar nichts mehr geht, haben wir immer noch die Wunderpille!« Einer seiner Freunde litt an Angstzuständen und hatte Wolfgang eine seiner Tabletten mitgegeben – für den Notfall. Mit zitternden Fingern drückte ich sie aus der silbrigen Verpackung und spülte sie mit einem Schluck Wasser herunter. Sie machte mich tatsächlich etwas ruhiger, auch wenn die Wirkung deutlich nachgelassen hatte, bis wir in Leipzig ankamen.
Auf dem Bahnhof war alles für unsere Ankunft bereit. Großes Kino. Der ganze Wirbel hatte zur Folge, dass ich mich nur noch unsicherer fühlte. Die Bedrohung war jede Sekunde spürbar. Wir sollten so lange sitzen bleiben, bis uns uniformierte Beamte aus dem Abteil führten. Über den Bahnsteig ging es auf kürzestem Weg zu einem Transporter, der uns zum Gericht fuhr. Dort wimmelte es von Menschen, Presseleuten und Kameras. Darauf hatte mich niemand vorbereitet. Und auch nicht darauf, dass meine Mutter und mein Stiefvater da waren. Es war das erste Mal, dass wir uns nach dem Abschied am Parkplatz wiedersahen, fast ein Jahr war seitdem vergangen.
Umringt von Beamten, betrat ich das Gericht, das damals in der Angerstraße 40–44 untergebracht war. Auf dem Flur umarmte ich kurz meine Mutter, ein längeres Gespräch war nicht möglich. Ich musste warten, bis ich als Zeugin aufgerufen wurde.
Dann betrat ich den Gerichtssaal. Rechts und links vom Eingang befanden sich Stuhlreihen für das »Publikum«, meine Mutter und mein Stiefvater saßen in der ersten Reihe. Links hatte die Verteidigung Platz genommen, rechts die Staatsanwaltschaft, an der Stirnseite der Richter mit seinen Beisitzern. In der Mitte befand sich der Zeugenstand. Ein kleines Pult mit Stuhl. Wie auf dem Pranger.
Wie gelähmt blieb ich in der Tür stehen.
»Bitte, Fräulein Schmidtmann, kommen Sie nach vorne.«
Meine Schritte waren unsicher, schwer, als hätte ich Blei in den Beinen, den Kopf hielt ich gesenkt.
Als ich ihn hob, blickte ich direkt in seine Augen. Das Schwein sah mich an, weidete sich an meiner Angst.
Der Zeugenstand bewegte sich plötzlich, es war, als würde er sich mit jedem Schritt weiter von mir entfernen. Ich streckte die Hand aus, griff ins Leere, alles drehte sich.
»Den Stuhl! Bringt ihr doch den Stuhl.«
Bevor ich wegsackte, packte mich jemand und hievte mich auf die Sitzfläche. Wolfgang, mein Fels in der Brandung.
Ein Beamter brachte mir ein Glas Wasser, aus der Ferne hörte ich, dass jemand die Frage stellte, ob man den Saal räumen solle. Stühlerücken, Murren. Die Presse und alle, die keine Angehörigen waren, mussten den Saal verlassen.
»Fräulein Schmidtmann, geht es wieder? Können wir anfangen?«
Die Stimme des Richters war ruhig, freundlich.
Ich nickte.
Bei der anschließenden Befragung hatte ich Mühe, die Fragen zu verstehen. Die Laute liefen ineinander über, ein einziger Brei, aus dem ich nur einzelne Wortfetzen heraushören konnte. Bis heute kann ich mich nicht genau daran erinnern, welche Fragen mir an jenem Tag gestellt wurden.
Nur die folgende Fragenserie ist mir fest im Gedächtnis geblieben. Vielleicht, weil ich sie so unglaublich schäbig fand.
»Fräulein Schmidtmann, hatten Sie, bevor Sie ins Jasmin kamen, schon einmal Geschlechtsverkehr?«, fragte Kuglers Verteidigerin.
»Ist es richtig, dass Sie bereits vor dem Jasmin ungewollten Sex hatten?«
Ich zuckte zusammen und blieb stumm.
»Fräulein Schmidtmann, ist es richtig, dass Sie als Kind missbraucht worden sind?«
Die Frage dröhnte in meinen Ohren.
Mandy, hey, stell dich nicht so an! Wir mögen uns doch, du liebst mich doch, oder? Und wenn man sich liebt, dann macht man so was. Ist so, ich weiß das.
Wo hatten sie das denn jetzt her? Und was hatte das mit dem Jasmin zu tun? Ich drehte mich um und sah panisch zu meiner Mutter. Sie
Weitere Kostenlose Bücher