Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)

nickte unmerklich und schloss die Augen. Wieso kam diese Geschichte jetzt auf den Tisch?
    Diese Geschichte. Auch so eine Scheißgeschichte, weggedrückt und Teppich drüber. Ich war acht, als es begann, und zehn, als meine Mutter Anzeige erstattete. Gegen meinen Cousin. Er war noch nicht volljährig, bekam eine Verwarnung. Bei Wiederholung wurde ihm eine strafrechtliche Verfolgung angedroht.
    Von vorn kam in sehr ruhigem Ton: »Sie müssen diese Frage beantworten, Fräulein Schmidtmann.«
    Ich nickte und antwortete mit: »Ja.«
    Erklärte das irgendetwas? Gab die Tatsache, dass ich schon früher missbraucht worden war, anderen das Recht, das Gleiche zu tun? Wird die Tat dadurch weniger schlimm?
    Die Dämonen waren sofort zur Stelle. Du bist schuld. Du hast die Weichen selbst gestellt. Der Weg ist vorgezeichnet.
    Ich saß auf meinem Stuhl, zerpflückte ein Papiertaschentuch, war unfähig, auch nur einen Satz herauszubringen.
    An den Rest der Vernehmung habe ich keinerlei Erinnerungen. Noch nicht einmal an den Weg zurück zum Bahnhof. Ein kompletter Blackout.
    Meine Erinnerung setzt erst wieder im Zug ein. Ich heulte fast die ganze Fahrt über. Aus Wut und Enttäuschung. Über mich selbst. Ich hatte stark sein wollen, klar in meiner Aussage. Hatte sagen wollen, was dieses Schwein uns alles angetan hatte. Stattdessen hatte ich versagt. Kläglich. Und dafür hasste ich mich.
    Wolfgang redete auf mich ein: »Es ist vorbei, es ist alles vorbei. Kugler wird bestraft werden, du musst keine Angst mehr vor ihm haben. Der geht in den Bau.« Er drückte meine Hand. »Und wir schauen jetzt gemeinsam nach vorne, lassen die Vergangenheit hinter uns.«
    Nach vorne schauen, das klang gut. Einfach alles vergessen. Mit den Jahren bekam ich richtig Übung darin, Wolfgang vorzuspielen, dass ich tatsächlich alles vergessen hatte. Nur selten, wenn ich nachts im Schlaf schrie und schweißgebadet aufsprang, bekam er mit, dass das nicht so klappte. Aber auch da hatte ich Ausreden. Der Film vorhin, du weißt schon, diese Szene, wo ich mich so erschrocken habe. Wir wollten uns beide nur allzu gern hinter solchen Erklärungen verstecken.
    Am Tag nach der Verhandlung ging ich zurück ins Internat, als wäre nichts geschehen. An den Wochenenden wälzte ich nun neben meinen Schulbüchern auch Ratgeber über Selbständigkeit und dicke Schinken mit den VOB s der Berufsgenossenschaft. Alles für mein neues Leben, das in drei Monaten, nach meinem Schulabschluss, endlich beginnen sollte!

Kinderlachen
Die Saat der Zeit sollte Neues bringen
Die Sonne hell und die Sterne klar
Ich hörte die Natur und die Liebe singen
Ein neues Leben, ach, wie wunderbar
    Ich war bei Anke zu Besuch. Wir tranken Kaffee, gegen Abend wollte Wolfgang mich abholen. Zwischen zwei Bissen Kuchen sagte ich ihr, dass ich das Gefühl habe, schwanger zu sein, mich jedoch nicht traute, einen Test zu machen. Sie ließ die Gabel sinken und starrte mich ungläubig an. »Na, also das will ich jetzt aber genauer wissen.« Gemeinsam fuhren wir in die nächste Apotheke, um einen Test zu holen. Zurück im Haus, schob sie mich ins Badezimmer. Sie lachte und sagte: »Ich lass dich erst wieder raus, wenn du den Test gemacht hast.«
    Ich hockte mich auf den Badewannenrand und öffnete die Pappschachtel. Der Test ist nur zur Anwendung außerhalb des menschlichen Körpers vorgesehen. Nicht verschlucken. Sie brauchen einen sauberen, trockenen Behälter und eine Uhr, las ich auf dem Beipackzettel. Ich steckte den Kopf aus der Tür. »Anke! Ich brauche einen Becher!« Als ich die ganze Angelegenheit vorschriftsmäßig hinter mich gebracht hatte, lief ich nervös auf und ab. Wenn das Resultat positiv ist (zwei Linien), kontaktieren Sie bitte Ihren Arzt und lassen sich die Schwangerschaft durch eine klinische Laboruntersuchung bestätigen. Wenn das Resultat negativ ist (eine Linie) und Sie dennoch den Verdacht haben, schwanger zu sein, können Sie den Test ein paar Tage später wiederholen. Lesen Sie auch weiter unter »Einschränkungen«. Das Ergebnis sollte innerhalb von fünf Minuten ablesbar sein.
    Was ist, wenn? Und was, wenn nicht? Wolfgang wollte so gerne Kinder.
    Anke klopfte energisch an die Tür und fragte: »Was machst du denn so lange?«
    »Bin gleich so weit.« Die fünf Minuten mussten längst vorbei sein.
    Ich nahm allen Mut zusammen und sah auf den Teststreifen. Zwei Linien! Eine eigene, kleine Familie! Ich stieß einen Schrei aus und stürzte aus dem Bad. Ich freute mich so riesig, und