Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
aus wie ein Zuhälter. Du solltest dich von solchen Leuten fernhalten, du bringst alle hier in Gefahr!«
Der Groschen fiel nur langsam. Wegen »Typen wie diesem« war ich hier anonym untergebracht. Das Internat war ein enormes Risiko eingegangen, die Kontakte des »Milieus« reichten weit, es war nicht auszuschließen, dass mich Kuglers Schergen hier ausfindig machten. Für Meiling, oder wer auch immer mich tags zuvor gesehen hatte, musste es so gewirkt haben, als sei »Tag X« da und ich zurück in den Fängen der Vergangenheit.
Das wäre die rationale Sichtweise gewesen.
Stattdessen platzte ich.
»Sie haben doch überhaupt keine Ahnung. Sie kennen ihn doch überhaupt nicht, also können Sie es gar nicht beurteilen!«, schrie ich.
»Ich will ihn auch nicht kennenlernen!«, konterte Meiling.
»Na toll! Hauptsache, eine gefestigte Meinung. Hätte ich von Ihnen nicht erwartet. Nicht von Ihnen! Was unterstellen Sie mir hier eigentlich? Dass ich mich gleich dem nächsten Zuhälter an den Hals schmeiße? Vielen Dank auch für Ihr Vertrauen!«
Ich stand wütend auf und knallte die Tür hinter mir zu. In meinem Zimmer warf ich mich aufs Bett und heulte mir die Augen aus. Ich verstand die Welt nicht mehr. Die Scheißerwachsenen sind doch alle gleich. Macht einen auf Kumpel und spielt mit mir Badminton, aber Zuhören ist nicht. Schublade auf und rein damit. Mich hat er auch schön in eine gesteckt. Ist ja klar, dass alle, die mit mir zu tun haben, auch aus dem Dreck kommen. Pack zu Pack, das passt doch.
Irgendwann klopfte Gudrun an der Tür, meine Gruppenleiterin. Sie versuchte, mich zu beruhigen, und meinte eher zaghaft: »Du hättest vielleicht sagen sollen, dass du einen Freund hast …«
Der Vorfall führte dazu, dass eine große Krisensitzung einberufen wurde: Horst und meine Pflegeeltern mussten beim Direktor antanzen und Stellung beziehen. Ich wurde nicht dazugebeten.
Einige Tage später sah ich während einer Freistunde, dass Wolfgangs Auto auf dem Parkplatz stand. Komisch, wir waren doch gar nicht verabredet? Ich hockte mich vor das Mädchenhaus, von dem aus man einen guten Blick auf den Verwaltungstrakt hat. Tatsächlich ging nach einer Weile die Tür von Meilings Büro auf, heraus kamen der Herr Direktor – und Wolfgang. Sie lachten und gaben sich die Hand. Wolfgang entdeckte mich als Erster und winkte mir zu: »Los, komm her!« Als ich näher kam, hörte ich Meiling sagen: »Das bekommen wir schon hin.«
Jeden Mittwoch besuchte Wolfgang mich nun ganz offiziell im Internat, und abends telefonierten wir. Ich blockierte regelmäßig die Telefonzelle in unserem Mädchenhaus. Wir schmiedeten Zukunftspläne. Eigentlich wollte ich nach meinem Abschluss im Sommer 1994 für zwei Jahre nach Frankreich gehen. An eine Schule für Mode- und Textildesign. Nun aber gab es Wolfgang. Eine Beziehung auf Distanz konnten wir uns beide nicht vorstellen; der Gedanke, ihn zu verlieren, war für mich äußerst bedrohlich. Wolfgang bestärkte mich darin: »Daran gehen die meisten Beziehungen kaputt, früher oder später.« Anstatt mich auf mich zu konzentrieren – was ich damals wohl gar nicht gekonnt hätte –, übernahm ich bereitwillig seine Lebensplanung. Ich könnte ihm bei dem ganzen Papierkram helfen, im Büro arbeiten, während er auf dem Bau unterwegs war. Wenn das Geschäft gut lief, könnte ich mich später immer noch um meine eigene Karriere kümmern.
Viele Jahre habe ich genau nach diesem Prinzip funktioniert. Ich wollte allen alles recht machen und merkte noch nicht einmal, dass ich selbst dabei auf der Strecke blieb. Ich hatte doch sowieso keine Bedürfnisse, also konnte ich mich auch um andere kümmern, die solche Bedürfnisse hatten. Die mich brauchten. Ich brauchte mich nicht. Willenlos, selbstlos, seelenlos, eine Marionette, deren Fäden andere in der Hand hatten. Wenn diese Marionette mal ins Stolpern geriet, gab sie sich selbst die Schuld. Wenn sie einen Fehler machte, jemand patzig oder gar aggressiv reagierte. Die Stimme, die manchmal zaghaft sagte, du wirst ausgenutzt, wurde sofort zum Schweigen gebracht. Du bist undankbar und egoistisch. Ein Satz, der perfekt funktionierte. Ich weiß nicht, ob ich nicht wollte oder nicht anders konnte. Vielleicht eine Mischung aus beidem. Hätte ich nach meinen Bedürfnissen gesucht, hätte ich in mich hineinhören müssen. Ich wollte nicht in mich hineinhören, hatte Angst vor den bösen Stimmen der Vergangenheit.
Aber die waren nicht nur in meinem Inneren.
Im
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