Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
Anke freute sich mit mir. Wolfgang würde selig sein. Und erst die Schwiegereltern. Die Familie meines Verlobten hatte mich mit offenen Armen aufgenommen, ich hatte von Anfang an ein sehr gutes und herzliches Verhältnis mit meiner zukünftigen Schwiegermutter. Für sie war ich in den ersten Jahren unserer Beziehung und Ehe diejenige, die sie mit meiner schusseligen, schüchternen Art immer wieder zum Lachen brachte. Ich hatte eine Familie gefunden, wie ich sie mir immer gewünscht hatte.
Meine Vergangenheit blieb unausgesprochen – und das war mir nur recht. Sie wussten zwar, dass ich etwas Schlimmes erlebt hatte, aber Fragen stellten sie nicht. Wozu auch, alles lief perfekt. Ich heiratete den Mann, der mein Leben vermeintlich verzaubert und ihm einen Sinn und den nötigen Halt gegeben hatte. Kurze Zeit später, im Februar 1995, kam unser erster Sohn zur Welt.
Meine Mutter ist bei keinem der Ereignisse dabei gewesen. Sie war gegen die Beziehung, meinte, dass ich damit die Vergangenheit in gewisser Weise fortsetzte. Ich wollte ihre Einwände nicht hören. Sie war doch schuld an allem! Weil sie es zugelassen hatte. Mich nicht beschützt, mir nicht zugehört hatte. Weil sie sich nur hinter Verboten und Regeln, Kritik und der Bibel verschanzt hatte. Verständnis? Fehlanzeige. Nicht einmal jetzt. In den darauffolgenden Jahren riss der Kontakt zu ihr immer wieder ab, auch über längere Zeit. Ihre Anwesenheit stresste mich, mir knallten wegen jedem noch so kleinen Anlass die Sicherungen durch. Weg, ich schob sie weg, sie gehörte zur Vergangenheit, die ich nun endlich überwunden glaubte.
Mein neues Familienglück hingegen war perfekt. Wolfgang hatte seinen eigenen Handwerksbetrieb gegründet, noch während ich meinen Schulabschluss machte. Nun stürzte ich mich voller Elan in meine neuen Aufgaben. Ein Kind, ein Unternehmen, ein liebender Ehemann. Nicht nach Frankreich gehen, keine eigene Ausbildung machen, keinen Psychologen aufsuchen und das Erlebte in irgendeiner Form aufarbeiten. Das mit der Ausbildung habe ich nicht bereut, trotz allem nicht.
Ich war siebzehn und blond und kämpfte um meine Position in der Handwerksbranche. Das war keine leichte Aufgabe, aber ich war ehrgeizig und wollte mir nicht die Butter vom Brot nehmen lassen. Nur nicht stehen bleiben, laufen, einfach weiterlaufen. Run, run. Wie Forrest Gump. Mit neunzehn übernahm ich die Geschäftsleitung unserer Firma, hielt die Papiere in Schuss und machte die Buchhaltung, was mir noch einmal einen Schub gab, was Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl anging. Wolfgang und ich stürzten uns in die Arbeit, ich im Büro, er draußen auf dem Bau. Er war ein fleißiger, korrekter Chef, die Auftragslage war gut, finanziell lief es immer besser.
Der erste Dämpfer kam, als wir merkten, dass mit unserem Sohn etwas nicht stimmte. Raphael war zwar nicht aggressiv, aber extrem unruhig, hatte einen enormen Bewegungsdrang und konnte sich nicht still mit etwas beschäftigen. Ich hielt ihn zunächst nur für sehr aufgeweckt und munter, kein Grund zur Besorgnis. Nachdem er aber immer heftiger reagierte, wenn Leute zu Besuch kamen, manchmal deswegen sogar mit dem Kopf auf die Fliesen schlug, beschlossen wir, einen Arzt aufzusuchen. Da stand ich nun mit meinem vierjährigen Jungen an der Hand in der Aula eines heiltherapeutischen Zentrums. Ein IQ -Test sollte gemacht werden, ebenso sollten seine visuelle Wahrnehmung und sein Reaktionsvermögen geprüft werden. Bei der Untersuchung hatte mein Sohn einen Riesenspaß damit, den Herrn Doktor mit Plüschtieren zu bewerfen und das Maßband zur Feststellung der Körpergröße immer wieder bis zum Anschlag herauszuziehen, um es dann mit einem lauten Ratschen zurückschnalzen zu lassen. »Lass das bitte!«, hatte ich ihn mehrmals ermahnt, mir war das alles sehr peinlich. Der Arzt lachte nur und sagte: »Nicht er muss sich ändern, sondern Sie. Sie müssen begreifen lernen, dass seine Welt so völlig in Ordnung ist.«
Ich sah ihn irritiert an. »Ihr Sohn hat ADHS , er ist hyperaktiv. Das hängt mit seinem Stoffwechsel zusammen, er läuft ständig auf Hochtouren. Aber es gibt Mittel und Wege, das in den Griff zu bekommen.«
Ich musste lernen, dass das Bild, das eine Gesellschaft von Kindern hat – davon, wie sie zu sein haben und wie besser nicht –, nicht auf meinen Sohn zutraf. Er war anders, brauchte Hilfe, um sich im Alltag zurechtzufinden. Die vermeintlich einfachsten Dinge überforderten ihn, anderes langweilte ihn
Weitere Kostenlose Bücher