Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
aus … Aber der Kalender da an der Wand ist scheußlich. Kann der nicht mal aufhören, mich anzusehen? Pfff. Öde. Gleich geht der Unterricht wieder los, dann komm ich hier raus.
Kam ich nicht. Er ließ mich so lange da sitzen, bis ich den Mund aufmachte. Weichgekocht durch Schweigen, das mir irgendwann unerträglich wurde.
Und da saß ich dann und redete zum ersten Mal mit einem weitgehend Fremden darüber, dass ich oft diesen Druck auf der Brust spürte und in mir ein Gefühl unbändiger Wut. Dass ich unkontrolliert zu zittern anfing, von einer ständigen Unruhe sei. Dass ich dann aber wieder stundenlang an eine Stelle an der Wand starren konnte und nichts spürte. Nur völlige Taubheit. Dass ich keine Freude mehr spüren könnte, alles nur schwarz war. Dass ich nicht wisse, welchen Zustand ich schlimmer fände. Den getriebenen oder den dumpfen. Um aus dem dumpfen herauszukommen, könnte ich mir wenigstens weh tun, irgendwann würde ich dann wieder etwas spüren. Wenn ich völlig hibbelig war, gab es nichts, was mich von diesem Trip herunterbrachte.
Er hörte mir zu, ohne mich zu unterbrechen. Am Ende fragte er mich, ob ich es nicht mal mit Sport versuchen wollte. Schließlich gebe es im Internat jede Menge Angebote. »Du brauchst ein anderes Ventil für diesen Druck, du kannst das nicht immer nur gegen dich richten.«
Ich zögerte. »Und was soll das bringen?«
»Sieh’s dir doch erst mal an! Was hältst du davon, wenn wir morgen gemeinsam Badminton spielen?«
Super Idee, auch noch mit dem Direx. Was soll das überhaupt sein? Badminton!
Er wartete meine Antwort gar nicht erst ab und sagte einfach: »Fein! Dann sehen wir uns morgen um 15 Uhr in der Turnhalle.« Damit wandte er sich geschäftig seinen Unterlagen zu, das Gespräch war beendet.
Wortlos verließ ich sein Büro und ging auf mein Zimmer. Das werden wir ja noch sehen. Ich mach mich hier doch nicht zum Affen.
Als ich am darauffolgenden Mittag mal wieder eilig an ihm vorbeisteuern wollte, lächelte er mich aufmunternd an und sagte: »Nicht vergessen! Wir sehen uns pünktlich um drei.«
Also gut.
Ich schlüpfte in meine Turnsachen und stapfte hinüber zur Sporthalle.
Super, er hätte mir ja gleich sagen können, dass er mit mir Federball spielen will! Ist doch Kinderkram. Ping, Ping, immer schön hin und her, wie früher auf der Wiese hinterm Haus.
Am Anfang war es auch eher Ping, Ping, nur über das Netz eben, aber dann legte er richtig los. Meiling hetzte mich von einer Ecke des Feldes in die andere, ich stürzte nach vorne, raste nach hinten und konnte gar nicht fassen, was der Typ mit dem Ball alles anstellte. Ich war flatschnass und völlig außer Atem, und froh, dass er nach einer Weile sagte: »Na? Pause gefällig?« Ich ließ mich erschöpft auf eine Bank fallen. Er musterte mich belustigt, legte mir dann die Hand auf die Schulter und fragte: »Und? Wie fühlst du dich jetzt?«
Ich grinste ihn schief an. Ja, es tat mir gut, und ich fühlte mich danach richtig lebendig. Irgendwie befreiter. Von da an wiederholten wir unsere »Federballduelle« regelmäßig. Ich hatte zum ersten Mal ein Ventil gefunden, das nach außen ging, nicht nach innen, um den Druck auf meiner Brust zumindest für einige Zeit zu lindern.
Doch dann kam ein Tag, der meine positive Sicht auf den Internatsleiter vorübergehend ins Wanken brachte. Der Tag, den ich nie in meinem Leben vergessen werde. Diesmal war es Herr Meiling, der mich im Speisesaal schnitt. Er sagte keinen Ton und schien nicht sonderlich gut auf mich zu sprechen zu sein. Er wirkte richtig angepisst. Ich nahm’s zur Kenntnis und dachte mir nichts weiter dabei. Als ich nach dem Mittagessen auf mein Zimmer gehen wollte, kam meine Gruppenleiterin auf mich zu. »Dicke Luft, du sollst zum Direktor kommen. Jetzt gleich.«
»Was ist denn los?«
»Das wird er dir dann schon selbst erklären.«
Auf dem Weg zu seinem Büro ging ich in Gedanken die letzten Tage durch. Ich hatte weder eine Klausur vergeigt noch mich danebenbenommen. Keine Ahnung, was der ganze Aufriss sollte.
Ich hatte kaum die Tür hinter mir zugemacht, als Meiling loslegte.
»Was war das für ein Typ, der dich gestern abgeholt hat?«
Ich wusste im ersten Moment gar nicht, was er meinte.
»Mandy, es geht nicht, dass solche Leute vor dem Internatsgelände herumlungern. Dieser Mann ist sicher doppelt so alt wie du, trägt eine dicke Goldkette um den Hals, ist braun gebrannt und hat blonde Strähnen im Haar. Tut mir leid, aber der sieht
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