Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
November 1993, an meinem siebzehnten Geburtstag, verlobte ich mich mit Wolfgang. Endlich ein neues Leben!
Kurz darauf wurde ich ins Büro des Internatsleiters gerufen. Ich war überrascht, als ich dort auf Horst und Anke traf. Alle drei machten sehr ernste Gesichter.
Herr Meiling sagte: »Wir haben die Mitteilung erhalten, dass im Jugendamt in Leipzig eingebrochen wurde. Die Verantwortlichen dort gehen davon aus, dass jemand versucht hat, an deine Akte heranzukommen …«
Er machte eine Pause.
»… um deinen Aufenthaltsort herauszufinden.«
Es war eine Bombe.
»Wir haben allerdings die Hoffnung, dass dies nicht gelungen ist. Weil deine Akten und die Korrespondenz zwischen uns und den Behörden nicht mit deinem echten Namen geführt werden. Trotzdem solltest du sehr vorsichtig sein, in allem, was du tust.«
Ich musste schlucken, konnte kaum mehr hören, was Meiling weiter sagte. »… merkwürdig erscheint, … sofort Meldung machen … bla.« Es rauschte alles an mir vorbei.
Meine Vergangenheit war wie ein alter riesiger Krake, der mit seinen langen Tentakeln nach mir zu greifen versuchte. Wenn du mich hinhängst, ich krieg dich, auch noch aus dem Knast raus. Ich pack dich, drück dir den Hals zu, so lange, bis du das Maul hältst. Es liegt nur an dir, wenn ich dir weh tun muss, vergiss das nicht. Allein an dir. Halt einfach das Maul! Seine Stimme hallte durch meinen Kopf. Sein fettes Gesicht vor meinem, ganz nah. Ich krallte meine Finger in die Lehne des Sessels, alles um mich drehte sich. Die Blätter des hässlichen Kalenders wehten durch das Zimmer, ratsch und weg. Das gerahmte Bild auf dem Schreibtisch, die Stifte tanzten Polka vor meinen Augen, Ankes Hand, die nach mir griff, war plötzlich riesengroß. Horst sprang auf, ein Glas Wasser, wir brauchen ein Glas Wasser! Danach weiß ich nichts mehr. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Zweisitzer in Meilings Büro, Anke fächelte mir Luft zu. »Alles gut, Mandy, alles gut, wir sind da.«
Benommen setzte ich mich auf.
»Was ist denn passiert?«
Meiling räusperte sich, keiner sagte ein Wort.
Nach einer gefühlten Ewigkeit fasste Anke noch einmal zusammen, was geschehen war. »Weißt du, sie haben es probiert, aber sie hatten keinen Erfolg damit. Und das ist doch die gute Nachricht. Dass du geschützt bist! Wir schützen dich, das Internat, alle passen auf dich auf! Das ist wichtig, gerade jetzt …«
Wieso gerade jetzt? Ist doch alles schön, alles gut, alles fein. Wir heiraten, mein neues Leben, mein Fels, ich bin sicher.
»Mandy … der Prozess … hast du das schon vergessen?« Anke sah mich mit großen Augen an.
Der Prozess. Gegen Kugler und den Polizeibeamten, der das Jasmin gemeinsam mit dem Zuhälter geführt hatte. Ich hatte den Termin verdrängt. Nichts sollte die rosa Wolke, auf der ich mich so in Sicherheit gewiegt hatte, beschmutzen.
Die nächsten Wochen waren die Hölle. Ich bestand nur noch aus Angst. Wenn ich über den Flur ging, wenn ich in meinem Zimmer war, wenn ich das Internatsgelände verließ. Die Angst war allgegenwärtig. Wenn ich allein in den Krämerladen um die Ecke ging, um mir ein Schulheft zu kaufen oder irgendwelche Süßigkeiten, bekam ich Panikattacken. Jeder Schritt fiel mir schwer, immer und überall hatte ich das Gefühl, beobachtet und verfolgt zu werden. Bei jedem Geräusch zuckte ich zusammen. Ich hatte Wahnvorstellungen, hörte das Klicken des russischen Roulettes, spürte den kalten Lauf an meiner Schläfe. Ich sah den Kraken vor mir, fett und schleimig, hörte, wie er mit seinen Armen über den Boden rutschte, hinter mir her. Langsam, aber unaufhörlich. Ich schob nachts den Schreibtisch vor die Tür, zog mir das Kissen über die Ohren, aber ich wusste, das Monster war da. Mandy, Kleines, sei doch nicht so naiv. Das bisschen Holz, ein Leichtes für mich. Krrtsch, Krrtsch. Siehst du? Schon bin ich da. Ich lass dich nicht los, ich will dich doch nicht verlieren.
Der Prozess
Geplant und mächtig wachten sie, die schlafenden Hund
Über meiner schon längst dem Tod geweihten Hoffnung.
Verlogen, betrogen um bittere Klarheit
stehe ich im Ertrag ihrer Saat.
Am Tag der Verhandlung, bei der ich als Zeugin geladen war, wurde ich von mehreren Polizeibeamten in Zivil abgeholt. Mit Horst und der Internatsleitung war abgesprochen, dass sie mich sicher zum Gericht und zurückbringen und mich nicht aus den Augen lassen sollten. Wolfgang durfte ebenfalls mitkommen. Es war vereinbart worden, dass wir mit dem
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