Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
34 Monaten vorzeitig aus der Haft entlassen worden war, habe nun, Jahre später, angedeutet, möglicherweise doch in vollem Umfang auszusagen. Man habe sich deswegen entschieden, Kontakt zu den Mädchen aus dem Jasmin aufzunehmen. In einem persönlichen Gespräch wolle man mir alles Weitere erläutern. Außer, dass es um »Identifizierungen« ginge, könne er mir am Telefon leider nichts weiter sagen.
Die Paranoia war sofort wieder da.
»Woher soll ich wissen, dass Sie wirklich von der Polizei sind? Ich habe eine Nummer angerufen, Sie haben sich gemeldet – woher soll ich wissen, dass Sie mich nicht aus dem Weg räumen wollen?«
»Sie müssen nicht nach Leipzig kommen, wenn Sie das nicht wollen. Wir können auch eine Polizeidienststelle in Ihrer Umgebung mit der Befragung betrauen.«
Das fehlte mir gerade noch. Ich wollte nicht, dass irgendjemand am Ort etwas von meiner Vergangenheit erfuhr, und bat um Bedenkzeit.
Wolfgang und mein Bruder waren sich einig. »Lass die Finger davon. Bislang hat keiner einen Grund gehabt, dich umzubringen. Du hast ja vor Gericht niemanden belastet, und das solltest du auch jetzt nicht.«
Aber eben genau das war mein Problem. Ich hatte das Gefühl, vor Gericht versagt zu haben.
Die Vorgänge im Jasmin waren damals nicht wirklich untersucht worden. Kugler und sein Polizistenfreund waren die Bauernopfer, diejenigen, die ihren Kopf nicht aus der Schlinge hatten ziehen können. Beim Prozess waren beide »nur« wegen Menschenhandels in Tateinheit mit Zuhälterei und Förderung der Prostitution bzw. wegen der Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger angeklagt worden. Und nicht auch wegen schwerer Körperverletzung und Vergewaltigung.
Kugler bekam vier Jahre, sein Kumpan ein Jahr auf Bewährung. Die Ermittlungen damals hatten nur an der Oberfläche gekratzt, das Offensichtliche war geahndet worden, der Rest war Schweigen und Gleichgültigkeit. Niemand hatte sich zum Beispiel für die Kunden interessiert, obwohl sich in den Akten aus den Jahren 1993 / 94 bereits konkrete Hinweise auf bestimmte Freier fanden. Sie blieben unbehelligt.
Später erfuhr ich, dass Kugler bei seiner erneuten Vernehmung im Mai 2000 Folgendes zu Protokoll gab: Er habe seine Anwältin so verstanden, dass er mit zehn Jahren Haft oder mehr rechnen müsse, wenn er sich zur Kundschaft der Mädchen äußere, aber nur mit vier, wenn er keine »dreckige Wäsche« wasche. Die Anwältin sagte gegenüber der Presse, sie erinnere sich zwar an einen Deal, doch leider nicht an jede Einzelheit. Das milde Urteil hatte nicht nur in den Medien, sondern auch in Juristenkreisen für Verwunderung gesorgt. Für mehr allerdings auch nicht.
Ich besprach die Sache mit meinem Bruder. Er hörte mir schweigend zu und sagte dann: »Wenn du da noch mal durchwillst, musst du es machen.«
Wolfgang war in seiner Ablehnung sehr klar. Ich erzählte ihm, dass ich gemeinsam mit meinem Bruder nach Rathendorf fahren wolle, um den Geburtstag meines Neffen zu feiern. Am übernächsten Abend würden wir zurück sein.
Gegen halb neun brachen wir auf in die alte Heimat. Mit dem Handy rief ich in der Leipziger Dienststelle an, um alles Weitere zu klären. Am nächsten Vormittag würde ich zwei Beamte in Zivil an einer gut einsehbaren Tankstelle in Borna treffen, von dort aus dann zu einem versteckten Ort fahren, wo die Befragung stattfinden sollte. Keine große Sache, hatte er noch gesagt, aber für mich war es wie die Besteigung des Mount Everest.
Ich war unglaublich nervös und froh, dass mein Bruder dabei war.
Wir standen schon eine Weile an der Tankstelle, als ein roter Wagen auf das Gelände fuhr und hielt. Durch den Außenspiegel sah ich, dass ein Mann ausstieg und langsam auf uns zukam. Er blieb vor der Beifahrertür stehen und lächelte mich an. Ich gab mir einen Ruck und öffnete das Fenster, aber nur einen Spaltbreit. Der Herr stellte sich als Werner Meiser vor und zeigte mir seinen Dienstausweis. Alles in bester Ordnung.
In Kolonne fuhren wir zu einem Parkplatz in der Nähe eines kleinen Sees bei Borna. Wir stiegen aus, der zweite Beamte kam auf mich zu, um sich vorzustellen. »Schmidt, angenehm.« Er wirkte angespannt. Meiser, der das folgende Gespräch dominierte, versuchte, mir die Aufregung zu nehmen. Wir unterhielten uns über Belanglosigkeiten, das Wetter, dies und das. Bis ich mich so weit beruhigt hatte, dass ich eine Frage stellte, die mich seit dem Schreiben umgetrieben hatte. Warum nach all den Jahren erneut ermittelt
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