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Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)

Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)

Titel: Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
Autoren: Mandy Kopp
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innere Unordnung wegzudrücken.
    Nachdem ich das alles erzählt hatte, reichte Schmidt seinem Kollegen drei rote Mappen mit Lichtbildern. Sie baten mich, die Bilder in Ruhe durchzusehen. Falls ich jemanden erkennen würde, sollte ich sagen, woher und welche Erinnerungen ich damit verband.
    Mappe für Mappe blätterte ich durch. Es gibt Gesichter, die vergisst man nicht. Ich erkannte mehrere Männer als Kunden des Jasmin, darunter einen, den Trixi bei ihrer Befragung ebenfalls identifiziert hatte. Aber das erfuhr ich erst viel später. Es waren dieselben Männer, die ich acht Jahre später noch einmal identifizieren sollte.
    Namen nannten die beiden Beamten nicht, auch nicht auf meine Nachfrage; die Gesichter auf den Fotos blieben für mich bis auf weiteres anonym, ich kannte die Herren nur unter ihrem »Kundennamen«.
    Zu diesen Fotomappen gab es im Nachhinein einige Ungereimtheiten. In den Akten sind nicht alle Bilder aufgelistet; inzwischen haben die beiden Beamten vor Gericht eingeräumt, dass sie mir Fotos und Zeitungsausschnitte vorgelegt haben, die keine offiziellen Bestandteile der Lichtbildmappen gewesen waren. Ein kleines Versehen? Was auch immer der Grund gewesen sein mag – die Folgen sind schwerwiegend. Denn die Ergebnisse der Identifizierung können so nicht vor Gericht verwendet werden. Die Auswirkungen dessen reichen bis in die Gegenwart.
    Als wir fertig waren, standen wir noch eine Weile vor dem Wagen, bevor wir uns verabschiedeten. Schmidt und Meiser bedankten sich für meine Unterstützung und sagten zum Abschied einen Satz, der sich tief in mein Gedächtnis eingegraben hat. »Übrigens … Wenn Sie in den kommenden Tagen die Schlagzeile in der Zeitung lesen, ›Zwei Polizisten im See ertränkt‹, dann wissen Sie, warum.« Es war ein schlechter Scherz.
    Der Weg zurück war quälend lang. Die erste Teilstrecke fuhr ich, ich hatte mir eingebildet, es würde mich auf andere Gedanken bringen. Aber je länger es dauerte, umso mehr Mühe hatte ich, mich zu konzentrieren. Die Bilder, diese verdammten Bilder kamen nach oben. Die Fotos mischten sich mit Szenen aus dem Jasmin. Herren in feinem Zwirn, das Haar akkurat geschnitten, erfolgreich, Kugler lädt ein, und die bessere Gesellschaft kommt. Frischfleisch, klar, extra für euch! Meine Tochter ist so alt wie du. Wie fühlt man sich eigentlich, wenn man mit der Tochter ins Bett steigt? Apfelbrüste. Sie sind so schön fest, wenn sie noch jung sind, so unverbraucht, so unverdorben. Und dann kommt Papi, und der Apfel ist ganz schnell faul. Sauer. Vergoren. Dann muss die Nächste her.
    »Pass doch auf!«
    Mein Bruder griff energisch ins Steuer. »Ich denke, wir wechseln jetzt mal. Du brauchst ’ne Pause.«
    In der nächsten Parkbucht fuhr ich raus. Er hatte recht, ich konnte wirklich nicht mehr. Ich nahm auf dem Beifahrersitz Platz und heulte. Meine Kräfte schwanden im Sekundentakt.
    Wolfgang öffnete die Tür. Er sah mich nur an, dann sagte er: »Du hast dich doch mit ihnen getroffen, stimmt’s? Das hättest du nicht tun sollen, das wühlt alles wieder auf. Du musst das Ganze endlich vergessen!«
    Wie soll ich das jemals vergessen?
    »Ich kann nicht länger so tun, als gebe es meine Vergangenheit nicht!«, sagte ich und stürmte an ihm vorbei. Gutgemeinte Ratschläge brauchte ich jetzt wie ein Loch im Kopf. Ich schloss mich im Badezimmer ein, brauste mich minutenlang heiß ab, den ganzen Dreck abwaschen. Ich wollte die Bilder wegspülen, sehen, wie die Farbe aus ihnen wich, dunkle Rinnsale auf dem Weg in den Abfluss. Hinterher fühlte ich mich etwas besser.
    Wolfgang und mein Bruder saßen im Wohnzimmer. Sie hörten auf zu reden, als ich hereinkam. Ein langes Schweigen. Ich nahm mir ein Glas Wein, setzte mich in den Lehnstuhl und starrte vor mich hin.
    »Hör mal … also wir haben uns überlegt, dass es vielleicht besser wäre, wenn du einen Anwalt einschalten würdest. Diese Vernehmung heute war doch etwas seltsam. Außerdem hat dich das psychisch total runtergezogen. Du musst dich schützen.«
    »Ich schaff das schon, keine Sorge.«
    Ich versuchte, die Belastung zu verharmlosen. Aber mein Körper sprach eine ganz andere Sprache. Ich hatte mich überschätzt. Es war doch alles weg gewesen. So lange Zeit gutgegangen. Schön weggepackt in den Schubladen tief unten.
    Die folgende Nacht war die Erste seit langem, in der ich wieder mit Flashbacks und Schlaflosigkeit zu kämpfen hatte. Auch tagsüber war ich völlig von der Rolle. Alles, was ich in der
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