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Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)

Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)

Titel: Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
Autoren: Mandy Kopp
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wurde. Meiser antwortete ausweichend. Er könne nur so viel sagen, dass Kugler sich an die Polizei gewandt habe, da er um sein Leben fürchte. Er sei bereit, unter Umständen vollumfänglich auszusagen, auch wenn er sich damit möglicherweise selbst belasten würde. Außerdem hätten sich bei Ermittlungen im Zusammenhang mit einem Attentat auf einen Manager der Leipziger Wohnungsbaugesellschaft Spuren zum Jasmin ergeben. Der leitende Ermittler hätte angeordnet, den Fall noch einmal aufzurollen.
    Ich sah ihn ungläubig an.
    Er erzählte mir, dass er bereits mit Lea gesprochen habe, die mich herzlich grüßen ließe und ihn gebeten habe, mir ihre Handynummer zu geben. Ich freute mich darüber, seit meinem Weggang ins Internat hatte ich nichts mehr von ihr gehört. Die kleine Lea. Meisers nächster Satz traf mich völlig unvorbereitet. Er sagte, dass sie ein Kind mit Kugler bekommen habe. Die Tränen stiegen mir in die Augen. Das Gefühl, dass ich sie im Stich gelassen hatte, für sie verantwortlich gewesen war und versagt hatte, drückte mir fast die Luft ab. Ich hatte es psychisch nicht geschafft, mich von meiner Vergangenheit zu lösen, sie aber hatte sich auf ganz andere Weise erneut in eine Abhängigkeit von unserem Peiniger begeben. Es war wie ein Schlag ins Gesicht. Das schönste Geschenk im Leben einer Frau ist ein Kind, heißt es so schön. Von ihm? Von diesem Schwein? Ein Kind, das einen jeden Tag an die eigenen Qualen erinnert? Dass Meiser mir sagte, sie habe sich inzwischen von ihm getrennt, machte es nicht besser. Wie viele Jahre hatte sie an ihn verschwendet?
    Heute weiß ich, dass es sich um eine Form des Stockholm-Syndroms handelt. Opfer, die eine Beziehung mit dem Täter eingehen, seine Sicht auf die Dinge übernehmen, um den maximalen Kontrollverlust über das eigene Leben zu kompensieren. Kugler war ja kein schlechter Mensch, eigentlich . Aktion und Reaktion, selbst schuld, nicht er war böse, sondern wir.
    Wie betäubt steckte ich den Zettel mit der Handynummer ein.
    Meiser wollte wissen, wie es mir in den letzten Jahren ergangen war. Ich erzählte stolz von dem, was ich alles geschafft hatte, von der Firma, meiner Familie und davon, wie viel Glück ich offenbar gehabt hatte. Denn auch Jasmin hatte den Absprung nicht geschafft.
    Für die eigentliche Vernehmung, die um 9.45 Uhr begann und um 22.30 Uhr, so der Vermerk auf dem Protokoll, endete, stieg ich zu den beiden Beamten ins Auto, mein Bruder musste draußen warten. Schmidt fragte mich, ob ich damit einverstanden sei, dass sie die Befragung auf Band aufnähmen. Ich stimmte zu. Dann sollte ich erzählen, von Anfang an. Ich sprach vom Tod meines Vaters, von unserem Umzug, von den zunehmenden Schwierigkeiten daheim und den Gründen, weshalb ich immer wieder von zu Hause abgehauen war. Davon, dass mich als notorische Schulschwänzerin und Ausreißerin keiner wirklich vermisste, als ich im Winter 1992 verschwand. Davon, wie Lea und ich ins Jasmin geraten waren, von der Zeit auf dem Strich und in der Wohnung, bis zu unserer Befreiung. Ich musste wieder neu ansetzen, jeder Satz kostete eine enorme Kraft. Ich erzählte von meinem Auftritt als Zeugin im Prozess gegen Kugler, von meinem Nervenzusammenbruch und den Gefühlen, versagt zu haben. Von der Zeit nach dem Urteil, über das ich nicht etwa vom Gericht informiert worden war, sondern von Herrn Meiling. Und der wiederum hatte es aus der Presse erfahren. In den Tagen danach war ich nicht in der Lage gewesen, am Unterricht teilzunehmen. Ich saß in meinem Zimmer und heulte, bekam mich innerlich überhaupt nicht strukturiert. Schon als Kind war ich sehr pingelig gewesen. Nach der Befreiung aus dem Jasmin war ich regelrecht zwanghaft geworden. In meinem Zimmer im Internat und bei Anke war alles wie mit dem Lineal ausgerichtet, nichts lag unordentlich herum. Ich musste alle Dinge des täglichen Lebens in mehrfacher Ausführung vorrätig haben, Duschgel etwa oder Shampoo, sonst drehte ich durch. In den Tagen und Nächten nach dem Urteil spitzte ich wie eine Wahnsinnige immer wieder meine Stifte an, so stark, dass sie beim ersten Kontakt mit einem Blatt Papier sofort abbrachen. Und dann wieder von vorn. Die Angst, einzuschlafen, die Panik vor den Alpträumen war so groß, dass ich nächtelang meine ganzen Schulhefte und Ordner neu abschrieb, fein säuberlich, beim ersten Fehler, der ersten Unsauberkeit, fing ich wieder von neuem an. Ich presste mich in ein starres Korsett aus Äußerlichkeiten, um damit die
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