Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
Tränen kämpfte. Und wie weiter? Ich wusste es nicht. »Mama, was war denn dann in deinem neuen Zuhause? Waren sie da nicht lieb zu dir?«
Ich stand auf und hob seine Klamotten vom Boden auf. Den Pullover hatte ich ihm schon vor Jahren gestrickt, viel zu groß war er gewesen, erst jetzt passte er. Ich faltete ihn zusammen und legte ihn in den Schrank.
»Nein, Schatz, da waren sie nicht nett zu mir. Dort waren viele Männer, und die haben mir sehr weh getan. Ich möchte nicht, dass dir so etwas passiert. Deswegen sage ich dir immer, dass du vorsichtig sein sollst und anrufen, wenn es später wird. Weißt du, ich habe bislang nicht viel darüber gesprochen.«
Er sieht so zerbrechlich aus. Alle Wege sind offen. Wohin seiner wohl führen wird?
Seine Ernsthaftigkeit, der feste Glaube an das Gute und Gerechte, machte mich ganz klein. »Mach, dass diese Männer nicht davonkommen! Ich habe keine Angst davor, Mama. Ich werde gut auf dich aufpassen.«
So ein kleiner Kerl und so viel Mut.
Am nächsten Tag wählte ich die Nummer der beiden Journalisten.
»Hallo, hier ist die Mandy. Ich habe die Unterlagen bekommen und durchgesehen. Ich wäre bereit, mich mit euch zu unterhalten«, sagte ich äußerlich gelassen, während in mir die Frage nagte, ob ich wirklich das Richtige tat.
»Oh, das ist großartig, das freut mich«, sagte Herr Ginzel.
Kontrolle, du musst die Kontrolle behalten.
»Aber nur unter den folgenden Bedingungen …«
Gut so. Du bist keine Sklavin, du hast das Heft in der Hand.
»Keiner erfährt meinen Namen, meine Anschrift oder meine Telefonnummer.«
»Kein Problem«, entgegnete er, »das ist für uns selbstverständlich, Journalistenehre, wir geben niemals unsere Informanten preis.«
»Und ich will Namen!«, fügte ich entschlossen hinzu.
Ginzel schwieg eine ganze Weile, dann sagte er: »Ich weiß nicht, ob das geht. Ob wir an die Unterlagen herankommen. Ein Teil der Akten des Verfassungsschutzes ist bereits geschreddert. Die Uhr tickt, der Fall steht kurz vor der Verjährung. Aber … wir wollen letztlich nur, dass die Geschichte, dass Ihre Geschichte nicht in Vergessenheit gerät.« Nichts von dem, was ich erzählen würde, würden sie verwenden, sofern ich es nicht selbst wolle. Keiner von uns hätte damals damit gerechnet, dass die beiden Journalisten eines Tages als »übereifrig« abgestempelt und sich auf der Anklagebank wiederfinden würden. Für einen Artikel im Spiegel , zu dem sie nur die Hintergründe des Sachsensumpfs recherchiert hatten, und einen Zeit-online -Artikel, den sie recherchiert und verfasst hatten.
*
Wir vereinbarten ein Treffen, bei dem wir alles Weitere klären wollten. Ich hatte zunächst einen neutralen Ort dafür vorgesehen, mich aber im Laufe des Telefonats entschieden, Vertrauen in die beiden Journalisten zu haben. Ich war gesundheitlich nicht auf der Höhe, mein zweiter Sohn war gerade neun Monate alt, außerdem musste ich endlich lernen, meine Angst zu überwinden. Ich wollte die Gespenster verscheuchen, ihnen die Maske vom Gesicht reißen.
Im Juli 2007 lud ich die beiden zu mir nach Hause ein. Es waren die Arbeitsproben gewesen, die akribische Recherche, die mich am Ende davon überzeugten, dass ich die Tür öffnen konnte. Ein Restrisiko blieb.
Ich hatte eine Freundin gebeten, sich während des Interviews um Luis zu kümmern. Den ganzen Vormittag stand ich in der Küche. Kochen lenkt ab, nur nicht nachdenken. Spaghetti bolognese, aber nicht aus der Tüte, sondern richtig italienisch, gut gewürzt und mit viel Gemüse und verschiedenen Fleischsorten. Muss lange köcheln, damit es schmeckt.
Während das Essen auf dem Herd stand, machte ich mich im Bad sorgfältig zurecht. Ich bin, ich bin heute, ich bin jetzt, nicht nur gestern. Ich bin ein Mensch, kein Objekt, kein Abziehbild, kein Klischee in eurer Vorstellung. Es war, als würde ich eine Rüstung anlegen. Einen Panzer, undurchdringlich, nach innen, aber so brüchig, dass ich schon Angst hatte vor dem Klingeln an der Tür.
Als es schellte, warf ich einen raschen Blick in den Spiegel, Fassade sitzt, dann öffnete ich. Nach der langen Zugfahrt wirkten die beiden erschöpft, in schlechterer Verfassung als ich. Das machte es mir leichter. Wir hockten uns gemeinsam mit Wolfgang an den Tisch in der Küche, aßen die Spaghetti und unterhielten uns über Belanglosigkeiten. Die Anspannung legte sich langsam, wir waren uns ganz sympathisch. Fast hätte ich vergessen, weshalb die Journalisten gekommen
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