Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
waren.
Ginzel wischte sich mit der Serviette über den Mund.
»Wo wollen Sie denn anfangen?«
Tja. Wo? Wann?
Ich konnte nicht sagen, wann das erste Mal etwas schiefgelaufen war. Der Tod von Matthias vielleicht? Spielte das überhaupt eine Rolle, so klein, wie ich damals gewesen war? Die Hänseleien im Dorf? Der Suff, die Religion, der Tod meines Vaters? Der Umzug, die falschen Leute, keinen Bock auf gar nichts? Gibt sicher noch ein paar mehr Menschen, denen so was passiert, ohne dass sie im Puff landen.
Es dauerte nur ein paar Minuten, schon steckte ich wieder im alten Muster. Diese ewigen Fragen, dieses Stochern im Ungewissen, dieser Hang, sich selbst die Schuld zu geben. Oder den Umständen. Als würde das etwas erklären. Warum konnte ich mich eigentlich nicht hinsetzen und sagen: Da draußen gibt es ein paar Schweine, die haben es auf Mädchen wie mich abgesehen. Die klauben uns von der Straße, wissen genau, welche Knöpfe sie drücken müssen. Das hat System. Nein, stattdessen gab ich mir selbst die Schuld. Notorische Ausreißerin, keiner hat mich vermisst, geschieht mir ganz recht.
Schuld, das war das Thema schlechthin. Ich hatte Lea im Stich gelassen. Mich nicht energisch genug an Kugler vorbeigedrängt nach der ersten Nacht in der »Mädchen- WG «. Ich war doch für sie verantwortlich gewesen, oder nicht? Gekniffen hab ich nach einer Ohrfeige, als ob’s die erste gewesen wäre in meinem Leben. Ich hätte das verhindern können, verhindern müssen. Das hat mich all die Jahre über gequält, kaputtgemacht. Ich hätte kämpfen müssen, stattdessen war ich eingeknickt. So fühlte es sich jedenfalls an. Ich hasste mich, weil ich in meinen Augen versagt hatte. Ich hasste mich, weil ich nicht genug gekämpft hatte. Weil ich mich so hatte demütigen lassen.
Hätte ich eine andere Wahl gehabt?
Während ich erzählte, geriet ich immer wieder ins Stocken. Es war das erste Mal, dass ich versuchte, die Ereignisse lückenlos zu schildern, ungefiltert. Das hatte ich bis dahin nicht einmal in der Therapie gemacht. Da war es um mich gegangen, und ich war ja nicht so wichtig. Hier ging es um mehr. Meine Erzählungen waren unstrukturiert, sprunghaft, ohne dass ich in der Lage gewesen wäre, sie zeitlich zu strukturieren. Der Anfang war das Ende, das Ende ein Anfang, alles lief ineinander. Ich heulte und redete und redete und heulte. Je länger, umso leichter fiel es mir, umso mehr Bilder und Situationen drängten nach oben.
Ich erzählte vom Verhältnis der Mädchen untereinander, vom Konkurrenzkampf um Kuglers Zuneigung und Trixis Ausraster, als ich ihr den gut zahlenden Heinz als Stammfreier weggeschnappt hatte. Von der Eiszeit zwischen uns hinterher und den gegenseitigen Beleidigungen. Ich erzählte von der »geschlossenen Gesellschaft«, dem Adventskranz auf dem Tisch und der Schweinemastanlage.
Während ich sprach, blickte ich immer wieder aus dem Fenster, in den Garten. Die Rosen standen in voller Blüte, ebenso die Oleanderbüsche, die ich in den vergangenen Jahren mühsam hochgepäppelt hatte. Es geht immer weiter, ein einziges Werden und Vergehen. Ein Kreislauf. Stete Angst höhlt die Seele.
*
Wenn ich heute diese Zeilen schreibe, frage ich mich, welches Gefühl in den vielen Jahren die Oberhand gewonnen hat. Habe ich durch das Aufschreiben, durch die Erzählungen einen Schritt nach vorne gemacht? Einen Schritt zurück, in mein altes Leben, das mir aus der Hand gerissen wurde? Kann ich daran überhaupt anknüpfen? Und will ich das?
Manchmal denke ich, dass ich mir Stück für Stück und Schritt für Schritt verlorenes Terrain zurückerobere. Dass ich einen Teil von mir freilege, der lange verschüttet war. In diesen Augenblicken will ich mich mit dem Opfer nicht identifizieren. Das bin nicht ich, diese Geschichte ist kein Teil von mir. Ich will sie nicht haben, ich will dieses Bild von mir nicht haben, keine Gefangene sein.
War dieses Gespräch jetzt der Befreiungsschlag? Das Mosaiksteinchen, das noch gefehlt hatte? Der Ausbruch aus den Mauern, die mir in den vergangenen Jahren sowohl Schutz gegeben hatten als auch Kerker gewesen waren? Es ist eine Erleichterung, wenn man schwarz auf weiß zu lesen bekommt: Sie haben eine Borderline-Störung, das ist ganz normal bei Ihrer Geschichte. Ach so. Klar, ist halt so. Da kann man sich schon zurücklehnen. Da kann man alles reinpacken, was nicht ins Bild passt. Das ganze emotionale Durcheinander, die Verzweiflung, die Ohnmacht. Schublade auf, rein damit,
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