Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
Währenddessen stand ich an der Staffelei, die Küche verwandelte sich zum Atelier, der Geruch von Farben, Öl und Balsamterpentin verteilte sich im ganzen Haus. Bis heute ist die Kunst meine Zuflucht, mein bester Freund und Therapeut.
Als Raphael aus der Schule kam, aßen wir gemeinsam zu Mittag, er setzte sich an seine Hausaufgaben, und gegen 15 Uhr brachte ich ihn zum Gitarrenunterricht. Es war ein schöner Tag, und ich machte einen Spaziergang mit dem Kleinen am Ufer der Mosel, bis der Unterricht vorbei war. Ich setzte mich auf eine Bank, starrte auf das Wasser und wartete auf ein Boot, das die ungeordneten Wellen glätten würde. Es beruhigte mich zu sehen, wie sich selbst die heftigsten Wasserverwirbelungen nach einer gewissen Zeit legten. Alles wird gut.
Es war bereits gegen Abend, mein Mann schaute fern und Luis war eingeschlafen, während ich ihm die Flasche gegeben hatte. Diese »Zeremonie« hatte etwas sehr Beruhigendes für mich. Ich stand auf, legte ihn in sein Bettchen und schloss leise die Verbindungstür zwischen Kinder- und Wohnzimmer. Raphael, der mit seinen dreizehn Jahren so langsam in die Pubertät kam, war noch im Bad, ich hörte das Rauschen der Dusche. Wenn er fertig war, würde er zu uns nach oben kommen, »Gute Nacht, Mama, gute Nacht Papa.«
Ich ging langsam nach unten, machte noch einen Abstecher auf die Terrasse. Die Blumen dufteten, ich sog die Luft begierig ein.
Als ich ins Wohnzimmer zurückkam, zuckte mein Mann erschrocken zusammen. Nach fast vierzehn Jahren Ehe wusste ich sofort, dass etwas nicht stimmte. Ich sah auf den Fernseher – und sah mich. Mit gefärbten Haaren und einem schwarzen Balken über den Augen.
Der Beitrag riss mir den Boden unter den Füßen weg. Ich fing an zu zittern, bekam keine Luft mehr. Die Schatten, die mich all die Jahre verfolgt hatten, standen plötzlich mitten in unserem Wohnzimmer. Bilder von Demütigung, Folter und Schmerz. Von Vergewaltigung, Qualen und Blut. Der Krake schlang seine Tentakel um mich und riss mich zu Boden. Wolfgang sagte gerade, dass es nicht der erste Bericht über das Jasmin gewesen sei, dass er mir aber nichts davon hatte erzählen wollen, als ich ein Geräusch im Flur hörte. Ich sprang auf und hielt die Tür von innen zu. Ich wollte nicht, dass Raphael auf diese Weise von meiner Vergangenheit erfuhr.
Verheult und hysterisch klammerte ich mich an das Türblatt.
»Was ist denn passiert? Mama? Bist du da?«
Erst, als ich die zaghafte Stimme hörte, wurde mir klar, was für einen Schreck ich ihm eingejagt haben musste. Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und öffnete die Tür.
»Alles klar, mein Großer. Wir haben uns nur gestritten. Ist aber schon wieder vorbei.«
»Oh. Das tut mir leid, Mama. Vertragt euch bitte wieder, ja?«
Dann nahm er mich in den Arm.
Mein Sohn nahm mich in den Arm! Was war ich eigentlich für eine Mutter, dass er das Gefühl hatte, mich schützen zu wollen? Verkehrte Welt.
*
Ein paar Tage später saß ich mit meinem Mann im Wohnzimmer, es war schon spät, als das Telefon klingelte. Um diese Uhrzeit? Das war sehr ungewöhnlich. Ich zögerte, bevor ich abhob.
»Hallo?«
Eine freundliche Männerstimme sagte: »Verzeihen Sie, dass ich zu so später Stunde noch störe. Spreche ich mit Mandy?«
Ich konnte die Stimme nicht einordnen: »Wer sind Sie?«
»Bitte, hören Sie mir einen Augenblick zu. Ich heiße Arndt Ginzel. Ich bin freier Journalist und recherchiere gemeinsam mit meinem Kollegen Thomas Datt im Fall Jasmin und im Sachsensumpf. Wir möchten herausfinden, was aus den Mädchen von damals geworden ist. Sind Sie die Mandy aus dem Jasmin?«
Mir fiel beinahe der Hörer aus der Hand.
»Wie kommen Sie darauf? Sie irren sich, das bin ich ganz sicher nicht.«
»Bitte, legen Sie nicht auf, geben Sie mir fünf Minuten.«
Ich sah zu meinem Mann hinüber, der mir mit einer Kopf-ab-Bewegung bedeutete, ich solle auflegen.
»Hören Sie, ich weiß, dass Sie Angst haben. Aber lassen Sie mich kurz erklären …«
Ich stand wie betäubt vor dem Telefon, den Hörer ans Ohr gepresst. Ich wollte nicht, dass er mir irgendetwas »erklärte«, konnte aber auch nicht auflegen. Ginzel redete und redete. Fünf Minuten. Als könne man die Vergangenheit in fünf Minuten pressen. Wortfetzen, die sich zu einem einzigen Brei vermengten. »… so froh, dass wir Sie gefunden haben … dachten, Sie seien tot.« Wieso soll ich tot sein? Ach ja, Kugler hatte das irgendwann in einem Interview einmal behauptet.
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