Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
Schublade zu. Und dann höre ich solche Sätze in einem Songext: »Es ist ein langer Weg nach Gestern, zu oft wird der Weg versperrt von zu vielen Tränen …« Blödes Geschwätz. Du musst den Weg ja nicht gehen. Wie gern wäre ich auf Knopfdruck die selbstbewusste Mandy, souveräne Herrin über jede Alltagssituation. Stattdessen hocke ich nun nach Jahren der vermeintlichen Sicherheit wie eine Maus vor dem Loch und trau mich nicht hinaus. Termin im Kindergarten? Geht nicht. Einkaufen? Nächsten Monat vielleicht. Ein Kuss im Dunkeln? Fass mich nicht an.
Ich möchte schreiben über etwas, das sich nicht zu Papier bringen lässt. Etwas ausdrücken, wofür ich keine Worte habe. Die Zweifel fressen mich auf. Ich sitze an meinem Schreibtisch und würde am liebsten alles in den Papierkorb werfen. Schweigen. Manchmal ist es süß, verlockend, dann wieder bleiern und schwer. »Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.« So steht es im Grundgesetz, Artikel 2, Absatz 2. Was ist mit der seelischen Unversehrtheit? Bekomme ich sie wieder, wenn ich anderen mit meiner Geschichte Mut und Kraft gebe? Kann ich das überhaupt? Ich kann mir ja nicht einmal selbst die Kraft geben, die ich für manche Tage bräuchte. Wenn ich morgens nicht einmal aufstehen kann, um Luis einen Tee zu machen.
An manchen Tagen verstehe ich es nur allzu gut, wenn sich die Opfer eines Verbrechens zum Schweigen entschieden haben. Der Weg scheint auf den ersten Blick weniger grausam, weniger steinig. Wer das Schweigen bricht, durchlebt alles ein zweites, ein drittes, ein unendliches Mal. Jeden Schlag, jede Demütigung, jede Vergewaltigung. Mein Therapeut sagt, die Schläge, die Stöße würden mit jedem Mal weniger heftig. Glaube ich ernsthaft daran? Ich weiß es nicht. Das Feuer der Hölle brennt heiß. Jedes Mal wieder.
Und dann wieder denke ich: Es war gut, dass du den Mut gefunden hast, diesen Dämmerzustand aufzubrechen. Das, was dich jahrelang gelähmt und betäubt hat. Der Schritt raus aus dem Gedankenlabyrinth war richtig, lass dich nicht länger um dein Leben bringen. Ein kurzer Moment der Selbstbestimmtheit. Aber die andere Stimme hat längst Luft geholt. Die Stimme, die sagt, dass die »Umstände« nicht einfach so von einem Besitz ergreifen. Dass das Leben nicht autonom handelt, sondern wir es sind, die handeln. Jeder Mensch sitzt sozusagen vor dem Baukasten seines eigenen Lebens. Alle Steine sind schon da, jeder kann sie setzen, so wie er will. Eins, zwei, drei, vier … An manchen Tagen denke ich, dass mir eine böse Macht all die schönen Bausteine aus meiner Kiste geklaut hat und ich nur noch die schlechten und traurigen übrig hatte. An anderen Tagen denke ich, dass ich die guten einfach so aus der Hand gegeben habe. Weil ich sie doof fand, langweilig. Da ist sie wieder, die Stimme, die mir selbst die Schuld geben will.
Nein, ich muss sie wegdrücken. Es waren andere Menschen, die mich um glückliche und schöne Momente betrogen haben, nicht ich habe das getan. Sie sind der Grund für den Schmerz, der bis heute mein Leben bestimmt. Und gleichzeitig hasse ich mich für die Passivität, dieses Ausgeliefertsein. Ich muss lernen, ja und nein zu sagen. Aber das geht nur, wenn man sich selbst ernst nimmt. Wenn man sich achtet, sich liebt. Liebe ich mich? Finde ich mich liebenswert? Wie soll ich mich lieben können, nach all dem, was ich getan und zugelassen habe?
Mag sein, dass man das lernen kann. Wenn man Menschen um sich herum hat, von denen man geliebt wird, die einem immer wieder Mut machen und Vertrauen schenken. Was ist das wert? Kann man das annehmen? Meinen die einen ganz oder nur den Teil, den sie sehen? Die Frau, die ein Unternehmen wuppt und eine Kleinfamilie und eine mehr oder weniger »schwierige« Vergangenheit? Die sehen den Teil doch gar nicht, den ich selbst von mir abgespalten habe. Wie sollen die mich denn ganz lieben, wo ich mich selbst nicht lieben kann?
Ich sehe jeden Morgen in den Spiegel, und das Einzige, was ich sehe, ist eine Fassade. Eine grinsende Maske, Mutter von zwei Kindern, Ehefrau, Geschäftsfrau, lächelnd, witzig, kraftvoll, mitten im Leben stehend. Ein Trugbild. Es ist nicht dieser Teil meines Ichs, der die Oberhand gewonnen hat, der mein Leben bestimmt. Sondern die andere Mandy, die, die nicht erkannt werden will, die sich so lange verleugnet hat. Die eigentlichen Machtverhältnisse sind umgekehrt. Ich funktioniere, um mich zu vergessen. Ich bleibe auf der Strecke, ohne es zu merken,
Weitere Kostenlose Bücher