Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
erzählte ihm von dem Treffen mit den Journalisten, und dass sie mich immer wieder nach Details gefragt hatten. Einem Leberfleck, einer Tätowierung, einer sexuellen Vorliebe. Irgendeinem Merkmal, das man nur kennen kann, wenn man jemanden nackt gesehen hat. Einem hieb- und stichfesten Beweis.
In meinem Kopf war nichts, ein riesiges weißes Blatt.
Die Schrift darauf war da, fein säuberlich festgehalten jeder Buchstabe, ich konnte die verdammte Schrift nur nicht entziffern. Die Zeilen verschwammen vor meinen Augen, bis nichts übrig war als ein weißes Blatt. Das Gefühl, das mich im Inneren erfasste, war mir nur allzu gut bekannt. Leere und Taubheit, nichts als Taubheit. Der Fächer über dem Bett, zählen, von eins bis siebzehn, immer wieder, ich bin nicht da. Das war mein Anker gewesen, mein Halt, der jede Berührung, jeden Schlag, jedes Eindringen in mich unwirklich machte.
»Das ist eine ganz normale Schutzfunktion, eine Teilamnesie. Das ist wichtig in extremen Stresssituationen, da klinkt sich das Gehirn einfach aus. Ein Impuls, der Ihr Überleben sichert.«
Ich musste an die Schafe denken und an das Zählen. Überlebt hatte ich, aber wie sollte es nun weitergehen? Was, wenn die beiden Journalisten recht hatten und es eine Möglichkeit gab, den Prozess wieder aufzurollen? Sollte ich dann da sitzen und sagen: »Weiß leider nichts, Euer Ehren, Teilamnesie, sagt mein Psychologe?«
Bitte schön! Ein gefundenes Fressen für die Gegenseite.
»Was halten Sie eigentlich von Hypnose? Ich meine, ich muss die Schatten ja irgendwie zu greifen kriegen, etwas in der Hand haben, mit dem ich meine Aussage untermauern könnte. Eine Reise zurück … ich weiß auch nicht, wie, aber es muss ja irgendwo in mir drin sein.«
Mein Therapeut rutschte unruhig in seinem Sessel herum. »Mandy, ich bin kein Trauma-Therapeut, ich habe keine Erfahrung mit solchen Dingen. Eine solche Rückführung ohne professionelle Begleitung kann fatale Folgen haben. Wenn Sie das wirklich machen wollen, muss ich Sie an einen Kollegen überweisen, der sich damit auskennt.«
Wenig später hatte ich meine erste Sitzung bei Herrn Wölfel. Wirklich begeistert war ich anfangs nicht, mich auf einen neuen Psychologen einlassen zu müssen. Es fällt mir einfach verdammt schwer, jemandem zu vertrauen.
In der ersten Sitzung umriss ich kurz, worum es ging. Dass ich hoffte, mich mit Hilfe einer Rückführung an bestimmte Eigenheiten oder Körpermerkmale der Täter zu erinnern. Thomas und Arndt hatten mir gesagt, dass es ohne solche »Beweise« nicht gehen würde.
Herr Wölfel war von meinem Wunsch alles andere als begeistert. Ob ich mir im Klaren darüber sei, was eine solche Rückführung unter Hypnose für Folgen haben könnte. Das Ganze könne im schlimmsten Fall zu einer schweren Re-Traumatisierung führen. Gleichzeitig sei ihm aber bewusst, dass ich zurück zum Ausgangspunkt meines Schmerzes müsse, sonst würde ich ihn nie überwinden können. Deshalb sei er bereit, mit mir zu arbeiten. Der Kleiderschrank – jedes Stück einzeln aufheben, ansehen, zusammenlegen, einräumen. Hätte ich gewusst, welche Qualen mir dieses »Aufräumen« in den nächsten Jahren bereiten würde, ich weiß nicht, ob ich mich jemals darauf eingelassen hätte. So viel Schmerz, so viel Wut, so viel Angst, so viel Ohnmacht. Und es ist immer noch nicht vorbei.
Am Pranger
Ja, an manchen Tagen sah ich nur sie, ganz genau.
Ganz verzweifelt nur? Ja, genau sie.
Die graue Luft, der schwarze Tag und doch?
Sie veränderte sich, sagte, bleib oder flieh.
In all diesen Jahren und Tagen wagte ich es nie, sie zu fragen,
wusste ganz verzweifelt nicht, wie.
Weil ich fürchtete, kläglich zu versagen,
nicht zu ertragen des Wahrheitslebenstrauerspiel.
Nur an jenen Tagen, an denen ich wagte zu fragen,
erschien sie und sprach, um mir zu sagen,
dass mit jedem Verzagen und Fragen auch die Hoffnung fiel.
Wir gingen zügig zum Auto, der Kies knirschte unter unseren Schritten. Ich setzte mich nach hinten, igelte mich ein. Die Stimmen meines Mannes und meines Anwalts Jens nahm ich nur aus der Ferne wahr. Ich war froh, sie an meiner Seite zu wissen, alleine wär ich nicht in der Lage gewesen, die lange Strecke von Dresden zurück nach Hause zu fahren.
Ein paar Tage zuvor, passend zu Weihnachten, hatte ich einen Brief erhalten. Einen braunen Umschlag, in dem eine Vorladung steckte. Die Aufforderung, im Januar 2008 zur Oberstaatsanwaltschaft im Amtsgericht Dresden zu kommen, zu einer Zeugenvernehmung
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