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Die Zeit, die Zeit (German Edition)

Die Zeit, die Zeit (German Edition)

Titel: Die Zeit, die Zeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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Mopedfahrer?«
    »Nicht so schnell. Wer garantiert mir, dass Sie mir wirklich helfen, wenn Sie es wissen?«
    »Versprochen.«
    Knupp stand auf und ging zum Herd. Er rüttelte die Pfanne und setzte sich wieder zu Taler. »Sie helfen mir ein wenig, ich verrate Ihnen ein wenig, Sie helfen mir wieder ein wenig und so weiter.«
    »Und wer fängt an?«
    »Ich.«
    »Also: Was wissen Sie über den Mopedfahrer?«
    »Nein, Sie sind am Zug. Ich habe den Anfang schon gemacht. Ich habe Ihnen das Bild gegeben.«
    Taler seufzte. »Dann sagen Sie mir eben, was ich tun soll.«
    »Zuhören.«
    Knupp ging wieder zum Herd. Er nahm die Pfanne von der Platte, hielt den Deckel fest, drehte das Ganze um hundertachtzig Grad und hob die Pfanne ab. Die Rösti lag jetzt auf dem Deckel, mit der gerösteten Seite nach oben. Knupp ließ sie zurückgleiten, deckte sie zu, stellte die Pfanne wieder auf die Platte und kam zurück an den Tisch.
    »Vor etwa zwei Jahren habe ich den Beschluss gefasst, alles hier in den Zustand des besagten elften Oktober neunzehnhunderteinundneunzig zurückzuverwandeln. Sie wissen, weshalb, und Sie werden über kurz oder lang Ihre Zweifel ablegen.
    Das erste Problem besteht in der exakten Bestandsaufnahme des damaligen Status quo. Ich musste eine Methodik entwickeln, wie ich die Dinge nicht nur optisch, sondern messbar rekonstruiere. Ich musste ein System finden, wie ich die Fotos von damals ausmessen und die Ergebnisse auf die Gegenwart übertragen kann.
    Die größte Herausforderung dabei sind die Pflanzen. Wenn ich endlich Größe und Form rekonstruiert habe, muss ich mich auf die Suche nach einem möglichst gleichen Exemplar machen, muss das voraussichtliche Wachstum miteinbeziehen und den Beschnitt so genau planen, dass der Wuchs am Tag X dem Vorbild entspricht.«
    »Unmöglich«, murmelte Taler.
    »Sie haben recht. Aber es gibt ein Phänomen, das wir Zeitnihilisten den Homoeomeria-Faktor nennen. Homoeomeria ist lateinisch – oder griechisch – und bedeutet Ähnlichkeit der Teile. Je größer diese ist, desto höher wird die Wahrscheinlichkeit ihrer totalen Angleichung. Sie müssen sich einen alten Pinselstrich vorstellen, den Sie mit neuer Farbe übermalen. Je sorgfältiger Sie dabei vorgehen, desto höher wird die Wahrscheinlichkeit, dass der alte und der neue Strich miteinander verschmelzen und eins werden.«
    Peter Taler hatte dafür nur ein Kopfschütteln übrig. Doch Knupp ließ sich nicht irritieren: »Selbst wenn der Homoeomeria-Faktor zu klein bleibt, gibt es eine andere Hoffnung. Erinnern wir uns an das Beispiel des Filmstreifens.« Der alte Lehrer verfiel wieder in seinen Dozententonfall. »Die vierundzwanzig Bilder pro Sekunde unterscheiden sich oft kaum und manchmal gar nicht. Wenn wir akzeptieren, dass es keine Zeit gibt, sondern nur Veränderung, dann müssen wir auch einräumen, dass wir uns ohne Veränderung am gleichen Punkt befinden. Und das bedeutet: mit wenig Veränderung fast am gleichen Punkt. Also?«
    Knupp sah Taler triumphierend an.
    »Auch wenn es uns nicht gelingt, den seit dem elften Oktober neunzehnhunderteinundneunzig unveränderten Zustand wiederherzustellen, so werden wir es doch schaffen, dessen kaum veränderten Status zu rekonstruieren. Es wird fast alles fast wie damals sein. Und da gehe ich mal davon aus, dass es das, was uns am wichtigsten ist, auch betrifft.«
    Er ging wieder an den Herd, rüttelte die Bratpfanne, deckte sie mit einem großen Teller zu, nahm zwei Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich wieder.
    »Wenn das alles stimmen würde, würde es alles, was wir zu wissen glauben, auf den Kopf stellen«, wandte Taler ein. Und maliziös fügte er hinzu: »Weshalb verheimlicht uns die Wissenschaft das alles?«
    »Weil sie nicht daran glauben will.«
    »Und weshalb nicht?«
    »Eben, weil es alles, was wir zu wissen glauben, auf den Kopf stellt.«
    Taler nickte vielsagend. »Aber Sie und ich, wir sollen daran glauben.«
    Zum zweiten Mal zeigte Knupp sein trauriges Lächeln. »Was bleibt uns denn anderes übrig?«
    Beide überbrückten die Stille mit einem Schluck Bier. Dann sammelte sich Knupp für den praktischen Teil: »Ich habe die Vorarbeiten gemacht. Ich habe Versuche angestellt und geforscht. Ich habe Pflanzen getrimmt, verformt, ausgewechselt. Über zwei Jahre habe ich an der Methodik gearbeitet, Rückschläge ertragen und Entdeckungen gemacht. Schon vor über einem Jahr war mir klar geworden, dass ich es nicht allein schaffen würde. Dass ich zu dem Punkt kommen

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