Die Zeit, die Zeit (German Edition)
Fotochemikalien. An einer Wand gab es ein Spülbecken, darunter standen Kunststoffbehälter zum Entsorgen der gebrauchten Bäder.
Knupp streckte sich nach den Negativstreifen, die an einer Leine unter der Decke hingen, und nahm einen herunter. Er hielt ihn gegen die rote Lampe, zählte die Bilder, legte den Streifen auf einen kleinen Filmschneider, schnitt ein Negativ raus, schob es in einen kleinen halbdurchsichtigen Umschlag und steckte ihn ein. »Für Sie. Später.«
Sie verließen die Dunkelkammer und gingen hinauf in Knupps Arbeitszimmer. Er lud Taler ein, auf einem Stuhl Platz zu nehmen, den er an seinen Schreibtisch gerückt hatte. Er selbst nahm auf dem Drehstuhl Platz und öffnete einen Ringordner.
»Am besten zeige ich Ihnen zuerst, wie wir vorgehen.« Er schlug die erste Seite mit dem handschriftlichen Titel »Garten, Ost« um. Auf das nächste Blatt war ein Foto geklebt mit der Legende »Jap. Zwergahorn, 11.9.91«.
Es folgten mehrere Fotos aus dem gleichen Winkel mit dem gleichen, jetzt aber um einiges größeren Ahorn. Ein Stab mit Maßeinteilung auf einem kleinen Stativ stand an verschiedenen Stellen neben dem Bäumchen. Auf der gegenüberliegenden Seite hatte Knupp auf durchsichtigem Pauspapier die Konturen des größeren Baumes durchgepaust und die Maße aus dem Foto übertragen. Daneben die Konturen des kleineren Baumes mit den aus Höhen und Breiten des größeren rekonstruierten Maßen.
»Ein Test. Viel zu ungenau. Muss man alles mit der Camera obscura überprüfen. Aber dazu muss man zu zweit sein.«
Dann folgte eine Sammlung von offensichtlich in Baumschulen und Gartencenters aufgenommenen Fotos, neben allen der Maßstab. Bis auf eines dieser Fotos waren alle durchgekreuzt. Am Schluss das Bild desjenigen kleinen Ahorns, der an die Stelle des größeren gepflanzt worden war, neben seinem Zwilling aus dem Jahr einundneunzig. Die Ähnlichkeit war frappant.
Erst jetzt fiel Taler auf, dass das neue Bäumchen das Datum von Lauras Todestag trug. Bevor er Knupp darauf aufmerksam machen konnte, sagte dieser: »Ja, ich weiß, das Bild habe ich am selben Tag gemacht.«
»Und trotzdem wollen Sie nichts beobachtet haben?«
Knupp sah ihm kurz in die Augen und wandte sich dann wieder seinem Aktenordner zu. »Bei den Apfelbäumen musste ich den Fluchtstab verlängern.«
Der Stab war jetzt durch einen zweiten verlängert. Die Bäume waren auf die gleiche Art fotografiert, vermessen und durchgepaust. Es folgten mehrere Seiten der in Baumschulen und Gartencenters fotografierten jüngeren Bäume, die als Ersatz in Frage kamen.
»Eine fast unmögliche Aufgabe. Bis tief in die Ostschweiz bin ich gereist, sogar über die Grenze nach Deutschland. Nicht nur Größe und Form mussten stimmen, auch die Sorte.«
Auf den Pauspapieren waren hier auch die einzelnen Äste konturiert und die Stammdicke eingetragen. Bei beiden Bäumen hatte Knupp auf der Zeichnung Äste durchgestrichen, die dann in natura auch tatsächlich abgesägt worden waren, wie den Schlussfotos zu entnehmen war. Sie trugen das Datum von vor ein paar Tagen, als Taler zum zweiten Mal das Gefühl gehabt hatte, etwas sei anders.
»Ich glaube, das ist bis jetzt das einzig Brauchbare. Mal sehen, ob es der Camera obscura standhält.«
Den ganzen Nachmittag verbrachten sie damit, Knupps Vorarbeiten zu sichten. Die Pflanzen, die schon neu gesetzt waren, die, die er schon vermessen hatte, und die, denen beides noch bevorstand.
Aus der Bestandsaufnahme ergab sich eine Liste der Gegenstände, die nicht mehr vorhanden waren und wiederbeschafft werden mussten. Ein paar Positionen waren bereits gestrichen.
Es gab ein eigenes Dossier mit Vergrößerungen von Details – Beschädigungen an der Fassade, Farbschäden an den Fensterläden, fehlenden Zaunstaketen – die repariert und wieder in den ursprünglichen Zustand zurückgebracht werden mussten.
Es begann schon zu dämmern, als Knupp einen letzten Ordner aus dem Aktenschrank holte. »Probleme« stand darauf. Er enthielt Fotos, auf denen bestimmte Stellen mit gelbem Fettstift eingekreist waren. Unter anderem die Birken im Nachbarsgarten hinter dem Haus; die immergrünen Büsche neben dem Plattenweg, der zu Talers Hauseingang führte; die Autos auf dem Parkplatz gegenüber, unter anderem Talers Citroën; die Graffiti an der Fassade und die verwahrlosten Geräte auf dem Kinderspielplatz des südlichen Nachbarhauses. Und praktisch alles vor und an dem verunstalteten nördlichen Nachbarhaus und
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