Die Zeit ist nahe: Kommissar Kilians dritter Fall
indischer Tanzmusik, und vom Obergeschoss hämmerten betäubende Techno-Beats herunter, die durch schrille und unmotivierte Violinangriffe bekämpft wurden. Darüber legte sich der ohrenbetäubende Lärm eines virtuellen Maschinengewehrs, gefolgt von den schmerzvollen Aufschreien der Getöteten.
Heinlein legte seine Tasche zur Seite und begann die Aufklärung in der Küche, bevor er oben nach dem Rechten sehen wollte.
Auf dem Tisch stand Claudia, sein geliebtes Eheweib und Mutter seiner beiden Kinder, Tom und Vera. In einen seiner gestreiften Schlafanzüge gehüllt, balancierte sie barfuß auf einem Bein, während das andere sich sachte im Halbkreis durch die aufsteigenden Schwaden der zahlreichen Räucherstäbchen um sie herum wand. An den ausgestreckten Armen formten ihre Hände bizarre Figuren. Ihre Haare waren aufgelöst und hingen wirr herunter. Sie zuckte zu den sphärischen Klängen einer indischen Sitar und den wie bekifft wirkenden Gesängen aus dem Recorder. Claudia bemerkte die unerwartete Heimkehr ihres Mannes gar nicht.
Heinlein öffnete den Kühlschrank, holte sich eine Flasche Bier heraus und setzte sich zu seiner Frau. Dann nahm er einen Schluck und stellte die Flasche wuchtig auf den Tisch.
Claudia erschrak. »Schorsch, verdammt …«
»Hallo, mein Schatz.«
»Hättest du nicht eine Sekunde später kommen können? Jetzt kann ich nochmal von ganz vorne anfangen.«
»Was machst du da eigentlich?«
»Tantra. Hat mir die Gisi empfohlen. Es reinigt die Aura total gut und gibt dir dein ursprüngliches Gefühl als Frau und deine Lust zurück. So richtig archaisch. Das ist echt der Hammer, sag ich dir. Da spürst du ganz genau, dass du Frau bist. Durch und durch.«
»Eigentlich spür ich das auch ohne dieses Mantra.«
»Tantra!«
Claudia verabschiedete sich aus der gemeinsamen Unterhaltung und nahm die alte Stellung auf einem Bein ein. Die nölende Nervensäge aus dem Recorder jammerte weiter.
Heinlein nahm einen Schluck. Dann: »Du, Claudia …«
»Hmh-Mhm«, gurrte sie.
»Ich muss mit dir reden.«
»Später, Schatz. In ein paar Minuten bin ich so weit.«
»Heute war doch diese Anhörung vor dem Ausschuss wegen dem Oberhammer …«
»Haaammer.«
»Oberhammer, verdammt.«
»Oh, jaaa …«
Heinlein nahm seine Flasche Bier und verließ enttäuscht den Tempel der Lust, der so unerwartet in seiner Küche beheimatet war. Im Obergeschoss angekommen fragte er sich, welchen Weg er zuerst wählen sollte. Links wurde unter anhaltendem Dauerfeuer munter weiter gestorben, während rechts die Schlacht zugunsten einer elektrisch verzerrten Violine entschieden zu sein schien. Aber auch sie hatte den Kampf nicht unbeschadet überstanden. Ein leises, fast jämmerliches Fiepen bahnte sich den Weg durch das Röcheln eines ersaufenden Klaviers.
»Hallo, Vera-Schatz!«, rief Heinlein noch vor ihrer Tür.
»Hier«, kam es aus dem Munde seiner unfassbar talentierten Tochter zurück, gefolgt von einem »Pssst« einer unbekannten Stimme.
Veras schulterlange Haare waren mit Claudias Drei-WetterTaft zu einem Strahlenkranz zusammengefasst und aufgerichtet, blau, rot, weiß eingefärbt, das Gesicht einer Geisha gleich fahl geschminkt, und ihr zierlicher Körper war in einen übergroßen US-Army-Anzug gehüllt. Zwischen Schulter und Kinn klebte die sündhaft teure Violine, die er ihr erst kürzlich zu Weihnachten geschenkt hatte und die nun an einen Verstärker angeschlossen war.
Gesteuert wurde die Installation von einem Freund, »Che!«, wie er sich nennen ließ, der den Sound am Computer treffend am guten Geschmack vorbeimanövrierte. Che! trug lange schwarze Haare und einen beeindruckenden Vollbart zu einem dunkelblauen Einheits-Arbeitsanzug, den Heinlein dem Reich Mao-Tse-tungs zuordnete. Er begrüßte Che! mit dem internationalen Begrüßungszeichen des vom System geknechteten Proletariats, indem er die Bierflasche hob. Ein mitleidiges Lächeln als Antwort bestätigte Heinlein seine Herkunft, sein Dasein und seine unabänderbare Zukunft.
»Ihr übt?«, fragte Heinlein leise.
»Pssst«, zischte Che! und malträtierte das Keyboard weiter.
»Eine neue Performance«, antwortete Vera. »Laurie Anderson war gestern, es lebe Revenge mit You Can’t Hide, Sam.«
»Ah ja.«
»Pssst.«
»Gut, Kinder, dann lasst euch nicht weiter stören. Peace!« Heinlein trollte sich unter dem rotzenden Dauerfeuer, das Che!
und Vera über Gottes eigenem Land herabregnen ließen.
Blieb noch der zweite Stolz seiner Lenden, Tom.
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