Die Zeit-Moleküle
Doch an manchen Vormittagen hatten die »Kontrolleure« so viel Briefe durchzulesen, daß die Post nicht zum Austragen fertig wurde, und der Briefträger machte nur einmal am Tage die Runde. Die übrige Post lag abholbereit bei der Zensur, wenn Paul Kronheimer um acht Uhr morgens nach der Briefzustellung nach Hause ging, sein Frühstück einnahm und seine Uniform – naturgetreue Nachbildung – ablegte. Dann ging er seinem zweiten Beruf nach. Von Montag bis Freitag Sparkassenangestellter ab neun Uhr. Da die Sparkasse außer ihm niemand beschäftigte, war er mutmaßlich gleichzeitig Sparkassendirektor.
Penheniot war, wirtschaftlich gesehen, das Ende einer finanziellen Sackgasse. Manny Littlejohns Geld floß in der Form von Lohntüten mit Bargeld in das Dorf, wurde ausgezahlt und anschließend (mindestens zu achtzig Prozent) in der Sparkasse wieder eingezahlt, um dort im Stahltresor zu schlummern. Niemand konnte bei seinen seltenen Ausflügen nach St. Kinnow mehr als einen winzigen Bruchteil seines beträchtlichen Gehalts ausgeben. Und jede Geldanlage außerhalb der Gemeinde war ausdrücklich verboten. Schließlich konnte man nicht an die Zukunft glauben (an die Flucht in die Zukunft, versteht sich), argumentierte der Gründer, und sich gleichzeitig auf die Zinsen von Staatsanleihen verlassen. Doch Bargeld behielt auch in der Zukunft seinen antiquarischen Wert. In dieser Hinsicht übte Manny Littlejohn ebenfalls eine strenge, wenn auch wohlmeinende, Kontrolle aus.
Deshalb war Paul Kronheimer fünf Stunden täglich von Montag bis Freitag vollauf beschäftigt (und bei dieser Arbeit erheblich billiger als der billigste Computer), Münzrollen und Münztaschen zu wagen und zu verbuchen. Er schnalzte dabei mit der Zunge und schüttelte besorgt den Kopf. Wenn Professor Krawschensky nicht bald einen Ausweg in die Zukunft fand, würde er sich eine neue Tresorkammer zulegen müssen.
Liza stellte den Stuhl vor der Poststelle ab und betrat den Schalterraum. Vielleicht war ein Brief von ihren Eltern eingetroffen. Seit Wochen hatte sie nichts mehr von ihnen gehört … Die Glocke über der Tür schlug an, als sie den düsteren Raum betrat. Die Posthalterin (Chefzensor) kam kauend aus dem Hinterzimmer, sich die Hände an einer geblümten Schürze abreibend. Liza beugte sich über den abgenützten Mahagonischalter. »Ist Post für Simmons da? Liza Simmons?«
Hinter dem Maschengitter ließ Mrs. Kops den Zeigefinger an den Fächern entlanggleiten.
»Ich glaube, ein Brief von Ihrem Onkel …« Sie fand den Brief, hielt ihn aber so, daß Liz ihn nicht gleich zu fassen bekam. »Schlechte Nachrichten, meine Liebe. Ihr Vater hat wieder mal Schwierigkeiten mit seinen Studenten. Ihre Mutter hat wieder einen Abtreibungsbefehl von der Gemeinde bekommen. Ihr Bruder wurde wegen Trunkenheit und anstößigen Benehmens in der Öffentlichkeit bestraft. Und außerdem liegt ein Stillegungsbefehl für Ihren Wagen vor, weil Sie noch keine neue Straßenfläche zugeteilt bekommen haben.« Mrs. Kops verschränkte die Arme vor der Brust, ihre schlaffen Brüste stützend. »Kurz«, fuhr sie tadelnd fort, »es ist ein Brief, den wir normalerweise nicht durchgehen lassen würden, wenn Sie nicht zu den Empfängern gehörten, die selten zur Panik neigen.«
»Ich habe es schon vor Jahren aufgegeben, mich wegen meiner Eltern aufzuregen.« Das gehörte zu den Loyalitätspflichten von Liza, und sie glaubte wirklich, was sie da sagte. Nachdem ihr Vater lange vergeblich versucht hatte, sie unter seinem Dach zu behalten, hatte er ihre Koffer aus dem obersten Stockwerk auf die Straße hinuntergeworfen. Und da sie damals zu jung gewesen war, diesem Akt eine komische Seite abzugewinnen, hatte sie das als Zeichen ihrer unwiderruflichen Trennung aufgefaßt. »Sie sind so verbohrt kurzsichtig … Sie hätten ohne weiteres mit mir hierherziehen können. In der Schule war eine Stelle frei. Mein Vater hätte sie übernehmen können. Er wollte natürlich nicht. Deshalb …«
Liza zuckte die Achseln, die typische aufgeklärte, fortschrittliche Person, die ihre Eltern kritisch wertete. Mrs. Kops betrachtete sie scharf und ließ sich täuschen.
»Wir alle haben Angehörige in der Außenwelt, meine Liebe.« Sie saugte an ihren falschen Zähnen. Weiß der Teufel, wo Littlejohn diese Person aufgegabelt hatte. »Doch wir sind nicht alle in diesem Punkt so vernünftig wie Sie, Kleine.«
Diese Herablassung war das Äußerste, was sie an Tadel wagte. Denn der Gründer hielt streng
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