Die Zeitdetektive 04 Das Teufelskraut
herrlich.“ Sie sprang auf. „Ich hätte Lust, mir dieses Konzert aus nächster Nähe anzuhören.“
„Du willst doch jetzt nicht etwa in die Kirche?“
„Klar doch!“, erwiderte Kim. „Wir schleichen uns hin. Niemand wird uns bemerken, weil niemand mit uns rechnet.“
Julian verdrehte die Augen. „Du hast manchmal wirklich verrückte Ideen.“
„Mag sein“, grinste Kim. „Aber mit mir wird’s auch nie langweilig.“
„Da hast du allerdings Recht“, lachte Julian. „Also gut, ich komme mit. Du auch, Leon?“
Leon streckte sich und gähnte. „Ich teile zwar nicht Kims Begeisterung für diese Art von Musik, aber ich bin selbstverständlich mit von der Partie.“
Und so schlichen die Freunde auf Zehenspitzen über den Korridor, der sie geradewegs zum Atrium führte, in dessen Mitte sich düster die Michaelskapelle in die sternenklare Nacht erhob. Der feierliche Gesang wurde lauter, je näher die Freunde der Lorscher Kirche kamen. Sie liefen durch den Kreuzgang und schlüpften geräuschlos durch eine schwere Eichentür. Rasch versteckten sie sich im Seitenschiff hinter einem massiven Pfeiler, der das hohe Gewölbe trug.
Die Kirche wurde nur schwach von Fackeln erleuchtet, deren tanzender Schein auf etwa einhundert Mönche fiel, die im Chorgestühl saßen. Die Diener Gottes sahen in ihren Kutten nahezu alle gleich aus – hundert dunkle Schatten, andächtig vereint.
Doch nun löste sich einer dieser Schatten aus der Gemeinschaft der Glaubensbrüder und bestieg die Kanzel. Was die Gefährten jetzt vernahmen, ließ sie den Atem anhalten. Eine glasklare Stimme ertönte von der Kanzel, so rein, hell und unschuldig wie die eines Kindes. Der Mönch sang einen Psalm. Dann antwortete ihm der Chor voller Inbrunst. Die tiefen Männerstimmen erhoben sich zu einem vielstimmigen, wohltönenden Gesang zum Lobe des Herrn.
In diesem Moment schien es den Freunden plötzlich undenkbar, dass das Kloster einen Mann beherbergte, der über Leichen ging, um an den Teufelstrank zu gelangen. Das Böse schien hier keinen Platz zu haben.
Die Stimmen des Chores verhallten. Es folgte eine Lesung aus der Heiligen Schrift, die von Adalung persönlich gehalten wurde. Der Abt begann leise, doch es gelang ihm, während seiner Lesung eine eigentümliche Spannung aufzubauen. Immer dann, wenn einige seiner Mitbrüder einzunicken drohten, hob er die Stimme, und seine Worte peitschten durch den geweihten Raum. Zudem ging einer der Brüder mit einer Laterne die Reihen der Mönche ab und leuchtete
ihnen ins Gesicht – offenbar um dafür zu sorgen, dass alle wach blieben.
Kim wurde nervös. Wenn der Mönch mit der Laterne sie entdeckte, hatten sie ein Problem. Es war schließlich ihre Idee gewesen, in die Kirche zu gehen … Doch sie hatten Glück. Der Bruder kam nicht einmal in ihre Nähe.
Der Gottesdienst dauerte noch eine knappe Stunde. Gesang und Lesungen wechselten sich ab. Schließlich erteilte Adalung seinen Segen. Nun beteten sie noch alle einmal gemeinsam, verneigten sich ehrfürchtig vor dem Altar und sangen gemeinsam feierlich das Te deum laudamus.
Die Gefährten ahnten, dass sie jetzt verschwinden mussten, und traten ebenso leise, wie sie gekommen waren, den Rückzug an. Unbemerkt gelang es ihnen, aus dem Kirchenportal zu huschen. Kim, Julian und Leon liefen auf das Scriptorium zu. Doch Kija hatte offenbar überhaupt keine Lust, den Kindern zu folgen und verschwand in der Nacht.
„Kija!“, rief Kim unterdrückt.
„Psst!“, machte Leon. „Du wirst uns noch verraten!“ „So ein Mist!“, zischte Kim. „Was sollen wir jetzt
machen? Wir können Kija doch hier nicht einfach zurücklassen!“
„Ich höre Stimmen. Die Mönche kommen! Wir müssen uns verstecken“, rief Julian.
„Schnell, schnell dort hinter die Säulen im Kreuzgang“, schlug Kim vor und lief auch schon los. Sekunden später duckten sich die Freunde in ihrem Versteck. Mit klopfenden Herzen sahen sie den Strom der frommen Männer in ihren Kutten nur wenige Meter entfernt an sich vorbeiziehen.
Die Brüder schienen ein und dasselbe Ziel zu haben. Sie bogen vom Kreuzgang nach links ab und stiegen eine Treppe hinauf – alle, bis auf einen! Der letzte Mönch, der die Kirche verließ, hatte anscheinend etwas anderes vor. Die hagere Gestalt, dessen Gesicht von der Kapuze der Kakulle verdeckt war, verlangsamte ihre Schritte. Dann blieb der Mönch stehen und wartete, bis seine Brüder außer Sichtweite waren. Wie in Zeitlupe wandte er sich um. Sofort
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