Die Zeitensegler
kicherte sie und zwinkerte ihm zu.
Dann geschah es: Dem ersten Stoß gegen das Schiff folgte tatsächlich ein zweiter. Wieder wurde der Seelensammler mit Wucht zur Seite geneigt. Während sich Simon und die Zeitenkrieger mit aller Kraft festhielten, wo sie nur konnten, erhoben sich die Krähen schreiend aus den Masten.
»Was ist hier los?«, rief Simon Neferti zu, als eine der Krähen von der Mastspitze direkt auf ihn herabgestürzt kam. Er zog den Kopf ein und hielt einen Arm schützend vor sein Gesicht. Die Krähe flog nahe an ihn heran und Simon konnte sie plötzlich mit schriller Stimme schreien hören: »Er kommt! Er kommt!«
Verblüfft sah Simon der Krähe nach, die wieder zur Mastspitze hinaufflog.
»Sie gehören zu ihm!«, rief ihm Neferti zu. »Es sind die Krähen des Schattengreifers. Sie sind seine Verbindung zu unserer Welt hier.«
»Aber … aber – sie hat … sie hat gesprochen! Die Krähe hat gesprochen!«
Neferti nickte, ging jedoch nicht weiter darauf ein, sondern sah ihn besorgt an: »Wir müssen dich verstecken, und zwar schnell! Der Schattengreifer wird in wenigen Sekunden hier sein!«
Es gab einen erneuten Schlag gegen das Schiff. Die Wellen des Meeres gerieten in Bewegung und ließen den Seelensammlerhin und her schwanken. Wind kam auf. Simon spürte, wie nackte Panik ihn ergriff.
»Schnell, komm mit!«
Gemeinsam liefen sie zu den anderen, die sich inzwischen vor der Kajüte zusammengefunden hatten.
Der Wind wurde immer stärker. Er heulte und pfiff ihnen um die Ohren. Rund um das Schiff wurden die Wellen schon meterhoch aufgepeitscht.
»Wir müssen Simon verstecken!«, schrie Neferti ihren Freunden durch den Lärm des Sturmes hindurch zu. »Der Schattengreifer darf ihn auf gar keinen Fall entdecken!«
Die anderen sahen sich hektisch um.
»Hier!«, brüllte Basrar und zeigte auf eine Holzkiste neben der Eingangstür zur Kajüte. Simon schätzte sie auf etwa einen Meter Höhe und zwei Meter Breite.
Basrar riss den Deckel der Kiste hoch, griff hinein und zog zwei Säcke mit Lebensmitteln heraus. »Mach schon, klettere da rein!«
Die Zeitenkrieger halfen Simon, in die Kiste zu steigen, und verschlossen hastig den Deckel über ihm. Keinen Augenblick zu früh! Das Schiff schwankte nur noch einmal zur Seite, dann legte sich der Wind ganz plötzlich und auch das Meer beruhigte sich. Friedlich lag das Schiff auf dem Meeresspiegel, so als sei nichts geschehen. Dem Tosen des Windes folgte eine merkwürdige Ruhe: eine greifbare, spannungsgeladene Stille.
Simon legte die Stirn gegen die Wand der Kiste und spähte durch die Ritzen zwischen den Brettern auf das Schiffsdeck. Er konnte nicht alles erkennen. Doch er hatte eine gute Sicht auf den größten Teil des Oberdecks, wo die fünf Zeitenkrieger hastig hin und her liefen und sich schließlich auf dem gesamten
Schiff verteilten. Simon begriff, dass sie damit von seinem Versteck ablenken wollten.
Und da sah er ihn!
Er stand am Bug des Schiffes. Dort, wo die Seiten des riesigen hölzernen Krähenkopfes zusammenliefen. Er stand einfach nur da, den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen – und schien seine Ankunft hier auf dem Schiff zu genießen. Er atmete tief durch, dann senkte er den Kopf, öffnete endlich seine Augen und blickte sich langsam um.
Sein Blick streifte die Kiste.
Instinktiv kauerte Simon sich zusammen. Er hatte das unheimliche Gefühl, als könnten diese schwarzen Augen durch alles hindurchsehen: als bohrten sie sich durch die Bretter hinein in Simons Versteck. Und weiter noch. Bis in Simons Seele. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so hilflos gefühlt. Und so machtlos.
Atemlos wartete Simon ab. Zehn Sekunden, zwanzig, dann wagte er es, wieder den Kopf zu heben und durch den Spalt zwischen den Brettern zu schauen.
Inzwischen war der Blick des Schattengreifers weitergeglitten und Simon atmete erleichtert auf. Er drückte die Stirn fest gegen die Bretter und schauderte: Je genauer er diese eigenartige Kreatur betrachtete, desto furchterregender erschien sie ihm: dieser glatte, weiße Schädel, diese tiefen, dunklen Augen und die farblosen, schmalen Lippen. Der kahle Kopf schimmerte im Licht der Nacht.
Der hagere Körper des Wesens war in einen langen, schwarzen Mantel gehüllt, der ihm bis zu den hohen Stiefeln an seinen Füßen reichte.
Doch was war das?
Simon stutzte: Am Hals des Schattengreifers bewegte sich etwas. Oder genauer: Etwas schien in der Haut zu verschwinden. Es hätten Federn sein können
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