Die Zeitensegler
warf Basrar das Seil zu, das er dem Aborigine abgenommen hatte, während er selbst den Mast umklammert hielt. Basrar griff nach dem Seil, und als sich das Schiff für einen kurzen Moment wieder aufrichtete, zog er sich selbst und den Jungen an den Mast heran.
Simon drückte den inzwischen völlig erschöpften Jungen gegen den Mast und hielt ihn fest, während Basrar ein Tau nahm, es um alle drei herumschwang und schließlich am Mast befestigte. So waren sie für die Zeitreise gesichert.
Das Schiff drehte inzwischen wahre Pirouetten, der Sturm peitschte die Wasserwände weiter zu unglaublicher Höhe auf, bis sie plötzlich ihren Halt aufgaben, zu Brechern wurden und über dem Schiff in sich zusammenfielen.
Der Seelensammler tauchte unter, die Jugendlichen schluckten Wasser.
Simons Körper durchzog wieder das Gefühl, als wölbte sich sein Innerstes nach außen. Basrar erging es wohl ebenso. Gegen die Schmerzen ankämpfend, verharrten sie an dem Schiffsmast, bis sich das Wasser zurückzog und die Natur sich beruhigte. Das Schwanken wurde weniger, schließlich ebbte es ganz ab und auch die Krämpfe in ihren Körpern ließen nach.
Sie waren angekommen.
Die sterbende Stadt
D IE STERBENDE S TADT
Die Faust flog ihm mit solcher Wucht ins Gesicht, dass es Simon für kurze Zeit schwarz vor Augen wurde. Der australische Junge versuchte mit allen Kräften, sich freizukämpfen, und schlug mit einer Hand wild um sich.
Simon zog den Kopf ein. Er hatte sein Bewusstsein noch nicht ganz wiedererlangt, die Situation noch nicht erfasst.
Da traf ihn ein zweiter Schlag ins Gesicht.
»Basrar!« Simon wand sich in dem Tau, mit dem er sich an den Mast gebunden hatte. »Basrar!«
Ein dritter Schlag verfehlte knapp sein Kinn.
»Hilf mir doch, Basrar!«
Er sah sich um. Nur mühsam kam er zu sich. Er atmete tief durch, zuckte jedoch im gleichen Augenblick zusammen. Beißender Gestank stach ihm in die Nase.
Endlich spürte er Kraft und Leben in sich. Er strampelte sich frei und wunderte sich, warum das Tau nicht enger um seinen Körper gebunden war. In dem Moment jedoch, in dem Simon seine Fessel ablegte, war auch der Aborigine frei: Er rannte, so schnell er konnte, davon, zum Bug – der Stelle also, die dem vorderen Schiffsmast am entferntesten war – und ging dort in die Hocke. Regungslos verharrte er in dieser Haltung, während sein Blick ängstlich über das Deck huschte.
Simon sah ihm besorgt hinterher, dann wandte er sich wieder dem Vordermast zu, an dem sie sich zu dritt angebunden hatten: Das Tau lag jetzt schlaff auf dem Deck. Von Basrar keine Spur.
Simon schaute zu den Jugendlichen an der Zeitmaschine hinter sich. Sie schienen unversehrt zu sein. Nin-Si zog eilig die Hände von der Mulde. Moon, Salomon und Neferti sahen sich unsicher um. Ihnen hatte der Zeitensprung nicht so zugesetztwie Simon. Es war, wie Basrar gesagt hatte: Die Maschine bot den Zeitenkriegern Schutz.
»Wo ist Basrar?« Moon schaute an Simon vorbei zum Schiffsmast. »Ihr seid doch vorhin dort …«
Auch die anderen blickten sich suchend nach Basrar um.
»Ich weiß es nicht.« Simon konnte seine Verwirrung nicht verbergen. »Ich …«
Plötzlich sprachen alle aufgeregt durcheinander.
»Ich habe doch gesehen, wie ihr zusammen diesen Jungen …«
»… wie ihr euch zu dritt an den Mast …«
»… gemeinsam mit dem Tau …«
Doch schlagartig verstummten alle. Sie hatten begriffen: Basrar war nicht mehr an Bord! Er konnte sich gar nicht mehr auf dem Seelensammler befinden. Er war in diesem Moment in seiner Heimatstadt: in Karthago. Sie mussten es tatsächlich geschafft haben. Sie hatten seine Epoche erreicht – jedoch zu einem Zeitpunkt, bevor Basrar dem Schattengreifer begegnet war.
Basrar war nicht an Bord, er war an Land. Der Seelensammler musste vor Karthago liegen.
Sie rannten zur Bordwand. Und wirklich: Direkt vor ihnen, einige hundert Meter entfernt, lag Karthago. Doch das Bild, das sich ihnen bot, war schrecklicher, als sie es sich nach Basrars Erzählung vorgestellt hatten: Die gesamte Stadt stand in Flammen. Von dem riesigen Hafengelände über das Stadtinnere bis hinauf zu dem Hügel brannte die Stadt lichterloh. Stechender Brandgeruch lag über dem ganzen Geschehen.
Wohin sie ihre Blicke auch wandten, überall bot sich Simon und den Zeitenkriegern ein einziges Bild des Grauens. An allen Orten wurde gekämpft. Römische Soldaten stürmten über lange Leitern die Stadtmauer hinauf, während Karthager sie daranzu hindern versuchten.
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