Die Zeitensegler
Speere schwirrten zu Hunderten durch die Luft. Mit Rammböcken stießen römische Truppen gegen das Stadttor.
Vor der Stadtmauer lieferten sich Römer und Karthager Gefechte mit Schwertern, Speeren oder bloßen Fäusten. Das Klirren gegeneinanderschlagender Schwertklingen legte sich über das lärmende Knistern und Fauchen der sich tiefer in die Stadt fressenden Flammen und über die Schreie der verletzten Männer, Frauen und Kinder.
Soldaten versuchten, sich mit ihren Schilden zu schützen. Doch wehrte einer einen Angriff von vorn ab, so wurde er oftmals genauso schnell von hinten mit dem Schwert eines anderen durchstoßen oder von Speeren getroffen.
Reiter gingen aufeinander los. In ihrer Wut und Siegesgier ritten sie blindlings über den Kampfplatz. Alles trampelten sie nieder, was sich ihnen in den Weg stellte: Kämpfende, Verletzte, Sterbende, bis sie aufeinandertrafen und sich und ihre Tiere der Sache opferten, für die sie eintraten.
Selbst auf dem Meer wurde gekämpft. Römische und karthagische Kriegsschiffe versuchten, sich gegenseitig zu rammen und zu entern. Auch hier beherrschten züngelnde Flammen und surrende Speere das Geschehen.
Überall nur Tote und Verletzte. Niemand konnte sich der Opfer annehmen, sie versorgen oder vom Kriegsplatz tragen. Jeder Mann, jeder Jugendliche, war in die Kämpfe verwickelt.
Das Meer hatte sich bereits rot gefärbt. Unzählige Tote lagen schon am Ufer.
Karthago war ein einziges Sterben.
Entsetzt betrachteten die fünf von ihrem Schiff aus das Kriegsgeschehen. Mit solcher Hölle hatte keiner von ihnen gerechnet.
»Wie sollen wir Basrar dort jemals finden?« Neferti sprach damit die Frage aus, die sich alle stellten.
Es waren weitaus mehr von den rot-silbernen Uniformen der Römer zu sehen als von den schwarzen Monturen der Karthager. Die Römer waren den Karthagern in ihrer Zahl weit überlegen.
Es gab überhaupt keinen Zweifel: Die Stadt war nicht mehr lange zu halten.
Der Seelensammler hatte Karthago wenige Stunden vor dem Augenblick erreicht, in dem die Stadt fallen würde. Wenige Stunden nur, bevor der Schattengreifer in Basrars Leben eintreten sollte.
Simon riss die anderen aus ihrer Erstarrung: »Wir müssen ihn finden«, rief er. »Wir müssen ihn retten. Dafür sind wir doch hierhergekommen!«
Nin-Si zeigte auf die brennende Stadt. »Du willst wirklich dort hinein?«
»Ich sehe keine andere Möglichkeit. Wir müssen Basrar unbedingt finden, bevor der Schattengreifer ihm begegnet.«
Moon wandte sich Nin-Si zu. »Bleib du auf dem Schiff. Jemand muss auf den Aborigine achten. Wir können ihn hier nicht alleine lassen.«
»Moon hat recht: Er steht sicher Furchtbares durch«, gab Neferti zu bedenken. »Vielleicht gelingt es dir, etwas Vertrauen in ihm zu wecken. Sprich mit ihm. Versuche, ihm zu erklären, was …« Neferti verstummte. Sie merkte selbst, wie verrückt ihre Worte klangen. Nin-Si sollte dem Jungen helfen, Vertrauen zu fassen, während rund um sie herum das Sterben weiterging. »Versuch es einfach«, wiederholte sie.
Nin-Si suchte den Blick des australischen Jungen und nickte.
Simon ergriff wieder die Initiative. »Dann lasst uns sofort aufbrechen. Je eher wir Basrar suchen, desto größer ist die Chance, ihn zu finden und vielleicht zu retten.«
Simon stürmte auf das Dach der Kajüte, ergriff das Steuerrad und riss es ruckartig herum. Der Seelensammler reagierte erst träge. Doch dann fuhr der Wind endlich in die noch gehissten Segel und sie gewannen schnell an Fahrt.
»Ich versuche, den Hafen zu erreichen«, erklärte Simon lautstark und setzte flüsternd hinzu: »Wenn man uns lässt.«
Die Schreie und das Kampfgetümmel um sie herum machten ihm Angst. Doch noch größere Angst verspürte er um seinen Freund: Basrar. Sie mussten ihn finden, bevor es zu spät war! Sie mussten!
Simon hoffte, dass weder Karthager noch Römer sich an dem Schiff vergreifen würden. Es befanden sich ja keinerlei Waffen an Bord des Seelensammlers. Auch ein Rammbock war nicht vorhanden. Und mit der Krähe als Galionsfigur erweckten sie gewiss nicht den Anschein eines Kriegsschiffes. Vielleicht hielt man sie für ein Handelsschiff. Für ein Handelsschiff, das Proviant brachte. Es gab nur diese zwei Möglichkeiten: Entweder man ließ sie durch oder sie waren dem Untergang geweiht. So wie alles hier um sie herum.
Inzwischen hatten Moon, Salomon, Neferti und Nin-Si die Segel eingeholt. Der Seelensammler kam näher und näher an das Kriegsgeschehen heran. Der
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