Die Zeitwanderer
solltest du dir vorstellen, dass auch die Zeit hierbei eine besondere Rolle spielt: Du weißt niemals, wann du irgendwo ankommst - nicht in welchem Jahr und noch nicht einmal in welchem Jahrhundert!«
»Fürchterlich«, entfuhr es Kit.
»Genau das kommt der Situation, in der wir sind, sehr nahe, mein Sohn«, sagte Cosimo, der sich auf der Bank zurückgelehnt hatte. »Zufällig haben Sir Henry und ich einige der Linien und mehrere Stationen in unserer Umgebung in Augenschein genommen und ihre Lage gewissermaßen auswendig gelernt. Doch der bei Weitem größte Teil dieses gigantischen Systems ist ein Mysterium geblieben ...«
»Wir wissen noch nicht einmal, wie viele andere Systeme es geben mag«, fügte Sir Henry hinzu. »Vielleicht mehr, als es Sterne am Himmel gibt; den Anschein hat es zumindest.«
»Überdies ist es unglaublich gefährlich, auch nur den Versuch zu machen, ohne die Karte jenseits der Grenzen des uns bekannten Liniensystems zu reisen«, warnte Cosimo.
»Genau«, stimmte Kit ihm zu. »Was also unternimmt man, falls man verloren geht?«
»Mein lieber Junge, verloren zu gehen ist das Geringste, was dir Sorgen bereiten sollte«, erklärte sein Urgroßvater. »Überleg einmal, was passiert, wenn du blind in eine andere Welt hineinspringst: Du könntest dich am Kraterrand eines ausbrechenden Vulkans wiederfinden oder mitten in ein Schlachtfeld hineinstürzen - ins Zentrum eines grausamen Krieges - oder auf einer rasch kippenden Eisscholle in stürmischer See landen.« Er breitete die Hände aus und schüttelte den Kopf. »Alles Mögliche könnte geschehen. Genau aus diesem Grund ist die Karte von allergrößter, essenzieller, lebenswichtiger Bedeutung - sie kann über Sein oder Nichtsein entscheiden.«
»Hört! Hört!«, rief Sir Henry und schlug mit seinem Stock auf. »Wir schulden Arthur Flinders-Petrie höchste Dankbarkeit.«
Kit wollte noch mehr Fragen stellen, doch er spürte, dass er allmählich nicht mehr klar denken konnte. Aber es gab eine Sorge, die an seinem Gewissen nagte. »Um noch einmal auf Wilhelmina zu sprechen zu kommen - was geschieht, wenn wir sie trotz all unserer Bemühungen nicht finden können? Was wäre das Schlimmste, was passieren könnte?«
»Wer vermag das zu wissen?«, entgegnete Cosimo. »Sie könnte natürlich irgendeiner Gewalttat zum Opfer fallen. Oder sie richtet selbst einen unvorstellbaren Schaden an, löst eine Katastrophe aus, deren Ausmaße sich nicht berechnen lassen ...«
»Natürlich unwissentlich«, warf Sir Henry ein.
»Oder es könnte auch nur passieren, dass sie sich in ein neues Leben einfindet - als Fremde in einem fremden Land. Dass sie irgendwann heiratet, eine Familie gründet und keinerlei Art von Schaden anrichtet. Andererseits könnte sie auch als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden. Das hängt ganz von den Gegebenheiten vor Ort ab.« Cosimo hob seine Handfläche zum Zeichen seiner Unkenntnis in dieser Frage. »Es gibt einfach keine Möglichkeit, die Auswirkungen vorherzusagen.«
»Ihr müsst sehen, die Hauptschwierigkeit liegt darin, dass die junge Lady ohne Zweifel nicht zu ihrem augenblicklichen zeitlichen Umfeld passt und sie daher möglicherweise eine Idee umsetzt oder eine Einstellung zeigt, die der natürlichen Entwicklung jener Welt fremd ist, in der sie sich nun wiederfindet.« Sir Henry, der seine Hände zusammengefaltet auf seinen Spazierstock gelegt hatte, wandte sein Gesicht dem Kutschenfenster zu und nahm die Landschaft in sich auf. »Es ist eine äußerst komplizierte Angelegenheit.«
»So ist es«, merkte Kit an, der schließlich zu begreifen begann, welches furchtbare Ausmaß dieses Problem hatte. »Wenn also Mina etwas in jener Welt verändert, würde sich diese Veränderung durch das ganze Universum ausbreiten.«
»Werft einen Stein in einen Mühlenteich und beobachtet, wie sich das Kräuseln auf dem Wasser immer mehr ausbreitet, bis die ganze Teichoberfläche in Aufruhr ist.«
Cosimo nickte und deklamierte: »›Du kannst keine Blume berühren, ohne einen Stern zu stören.‹«
Ein Lächeln ging über Sir Henrys Gesicht, als er dieses Zitat hörte. »Diese Worte habe ich noch nie vernommen. Von wem stammen sie?«
»Es ist aus einem Gedicht von einem Burschen namens Francis Thompson - leider ein wenig nach Eurer Zeit. Trotzdem schön, nicht wahr? Hier ist ein weiterer Spruch dieses Dichters: ›Der unschuldige Mond, der nichts anderes bewirkt, als zu scheinen, bewegt all die sich plagenden Wogen der
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