Die zerborstene Klinge: Roman (German Edition)
erfolgreich in den Großen Turm eingedrungen, trotzdem fühlte sich dieser neue Vorstoß ganz anders an. Jedes Geräusch war lauter, jede Kontrolle und jede Pause länger, jede Überraschung beängstigender. Diverse Techniken zur Verlangsamung des Herzschlags und zur Beruhigung der Atmung halfen, ebenso wie eine sorgsam abgemessene Reihe Efikbohnen, die ich im Laufe der Zeit kaute. Dennoch fühlte ich mich immer noch wie eine übermäßig gespannte Bogensehne, als ich endlich den kleinen Sitzungsraum erreicht hatte.
Kaum hatte ich die Außentür geschlossen, streckte ich mich lang auf dem Boden aus und legte das Hörrohr an den Türspalt der inneren Tür. Dort blieb ich beinahe eine halbe Stunde und lauschte der patrouillierenden Elite, vergewisserte mich, dass alles unverändert seinen Gang ging, und bereitete mich auf den nächsten Schritt vor. Als ich sowohl im Hinblick auf die Wache als auch meiner ruhigen Hände sicher war, schob ich die Eckhelle unter der Tür durch, um einen letzten Blick auf den Gang und den Türbann zu werfen.
Alles sah aus wie zuvor, also knüpfte ich rasch zwei lange Lederriemen quer über die Tür und schob zwei schmale Keile darunter. Die Riemen hatte ich mit einem einfachen Zauber zur Bindung und Versteifung versehen, der sie für einige Stunden stocksteif an Ort und Stelle halten würde. Einer verlief knapp über dem Boden, der andere etwa einen Fuß höher und damit ungefähr ein Zoll weit unter dem untersten der schweren Eisenbeschläge, die die mächtigen Eichenbohlen zusammenhielten.
Als Nächstes zog ich einen schmalen Dolch und winkte Triss zu – solange nichts schiefging, sollte zwischen uns bis zum Abschluss der Mission kein Wort fallen. Auf mein Zeichen hin glitt Triss an meinem Arm herab und umhüllte meine Hand und den Dolch mit einer dicken Lage Schatten. Er konzentrierte seine Gegenwart besonders auf die Spitze der Klinge, baute dort Druck auf und schuf so ein Tor, schmal wie das Messer, zum Immerfinster – nicht, dass ich das damals bereits gewusst hätte.
Eine Haaresbreite unter dem unteren Eisenbeschlag führte ich die beschattete Klinge an die Tür und fing leise an zu sägen. Zweimal musste ich innehalten und warten, bis die Wache vorbeigegangen war. Die Furche im Schatten des Eisenbandes war kaum erkennbar, doch das galt nicht für die Messerspitze. Als ich fertig war, hatte ich den unteren Fuß der Tür in eine horizontale Planke umgebaut, die dank der Keile an ihrem Platz verharrte. Nun befestigte ich sie mit einem weiteren Paar Lederriemen wieder an der Tür. Diese Riemen waren kürzer und flexibler und dienten als Scharniere.
Als die Wache die Treppe das nächste Mal hinunterging, zog ich rasch die Keile fort, öffnete die improvisierte Klappe in der Tür und glitt mit dem größten Teil meines Körpers hinaus auf den Gang. Über mir glühte friedlich der Bann, der nicht ausgelöst worden war, weil die Tür selbst nach wie vor geschlossen blieb. Nun arbeitete ich ernsthaft gegen die Zeit; der Durchgang, den ich in die Tür geschnitten hatte, ließ sich nicht einfach so reparieren, ohne dass Spuren zurückblieben, die jeder Magier erkennen konnte.
Die Tür auf der anderen Seite aufzutrennen dauerte viel länger, weil ich jedes Mal, wenn die Wache zurückkam, in den Sitzungsraum verschwinden musste, und ich konnte sie nicht mit Lederriemen ausstatten, ehe ich innerhalb des anderen Raums außer Sichtweite verschwunden war. Irgendwann aber hatte ich einen zweiten Durchschlupf geschaffen. Dieser öffnete sich zueiner Wohnstube in einer ausgedehnten und offenbar ungenutzten Zimmerflucht, die vermutlich von dem kürzlich exekutierten Prinzen bewohnt worden war.
Mit Hilfe meiner düsteren, roten Diebeslampe erkundete ich die Wohnräume. Jenseits der Wohnstube gab es ein Gesellschaftszimmer und ein Schlafzimmer. In sämtlichen Räumen bildete sich bereits der Geruch der Leere, der nach einer Weile auch in den gepflegtesten, verlassenen Räumlichkeiten entstand. Das Wichtigste aber war, dass ich dort einen Abort entdeckte, verborgen hinter einer kleinen Tür im Gesellschaftszimmer.
In einem weniger gut gesicherten Schloss hätte sich solch ein Abtritt in einem Erker an der Außenwand befunden, von wo aus die Inhalte schlicht in die Tiefe außerhalb der Mauern entlassen worden wären. Doch nicht im Palast von Tien. Hier ergoss sich das dicke Keramikrohr, das von dem Loch in der Marmorbank ausging, in einen zentralen Schacht, der durch das Gebäude zu den
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